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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Autoren: Yoko Ogawa
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    Wir nannten ihn den Professor. Und er taufte meinen Sohn »Root«, weil ihn sein flacher Schädel an das Dach eines mathematischen Wurzelzeichens erinnerte.
    »Oh, da steckt ein kluger Verstand drin«, sagte der Professor, während er ihm über das Haar strich.
    Mein Sohn zog argwöhnisch die Schultern hoch. Um sich gegen den Spott seiner Freunde zu wappnen, trug er ständig seine Baseballkappe.
    »Das Wurzelzeichen bietet unendlich vielen Zahlen ein schützendes Dach über dem Kopf. Übrigens auch solchen, die für uns nicht mehr wahrnehmbar sind.«
    Er malte das besagte Symbol auf eine Ecke des verstaubten Schreibtisches:

    Unter den zahllosen Dingen, die uns der Professor beibrachte, nahm das Wurzelzeichen den bedeutendsten Rang ein. In Anbetracht seiner Überzeugung, dass sich die Entstehung der Welt in mathematischen Formeln ausdrücken lässt, würde er über meinen Ausdruck »zahllos« wohl die Nase rümpfen. Aber mir fällt kein treffenderes Wort ein. Er erzählte uns von ungeheuer großen Primzahlen mit mehr als hunderttausend Stellen, von der allergrößten Zahl, die in mathematischen Beweisen eine Rolle spielt und im
Guinnessbuch der Rekorde
aufgeführt ist, sowie von mathematischen Ideen jenseits der Unendlichkeit. Aber so beeindruckend das auch sein mochte, es war nichts im Vergleich zu der intensiven Erfahrung, mit ihm die Stunden zu verbringen.
    Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als er uns zu erklären versuchte, welch magische Angelegenheit es doch sei, Zahlen einem Wurzelzeichen zu unterstellen. Es war ein verregneter Abend Anfang April, im schummrigen Arbeitszimmer hatte lediglich eine Glühbirne gebrannt. Der Schulranzen meines Sohnes lag achtlos hingeworfen auf dem Teppich und draußen vor dem Fenster schimmerten die nassen Aprikosenblüten.
    Egal, um welches Problem es gerade ging, der Professor erwartete von uns nicht unbedingt die richtige Lösung. Wenn wir, anstatt ratlos und stumm zu verharren, notgedrungen herumrätselten, bereiteten ihm unsere laienhaften Versuche großes Vergnügen. Am meisten freute es ihn jedoch, wenn sich aus dem ursprünglichen ein ganz neues Problem ergab. Er hatte eine besondere Vorliebe für »korrekte Irrtümer«, was uns gerade dann Mut machte, wenn wir trotz angestrengtem Nachdenken nicht auf die Lösung kamen.
    »Schauen wir uns mal die Quadratwurzel aus -1 an«, schlug der Professor vor.
    »Es muss also -1 herauskommen, wenn man eine Zahl mit sich selbst multipliziert, nicht wahr?« fragte Root.
    Mit dem Professor hatte mein Sohn, der in der Schule gerade erst Bruchrechnen lernte, schon nach einer halben Stunde begriffen, dass es Zahlen kleiner als Null gab.
    Wir stellten uns die Quadratwurzel aus -1 vor:.
    Die Quadratwurzel von 100 ist 10, die Quadratwurzel von 16 beträgt 4, die Quadratwurzel von 1 ist 1 …
    Der Professor drängte uns nie. Ganz im Gegenteil: Voller Freude beobachtete er uns dabei, wie wir angestrengt nachdachten.
    »Solch eine Zahl gibt es vielleicht gar nicht?« fragte ich zaghaft.
    »Doch, doch, sie existiert, und zwar hier.« Er tippte sich an die Brust.
    »Es ist die scheueste Zahl überhaupt. Deshalb tritt sie einem auch nie unter die Augen. Sie befindet sich tief in unserem Herzen und in ihren kleinen Händen liegt die ganze Welt.«
    Sprachlos versuchten wir uns die Quadratwurzel von -1 vorzustellen, wie sie uns an einem fernen, unbekannten Ort die Hände entgegenstreckte. Nur das Geräusch des Regens war zu hören. Mein Sohn strich sich über den Kopf, als wollte er sich noch einmal die Form des Wurzelzeichens vergegenwärtigen.
    Aber der Professor verstand sich nicht als Lehrmeister. Er hatte großen Respekt vor Angelegenheiten, die er nicht begriff, und zeigte dann die gleiche demütige Zurückhaltung wie die Quadratwurzel aus -1. Wenn er mich brauchte, sagte er stets: »Entschuldigen Sie vielmals die Störung, aber könnten Sie bitte …«
    Selbst dann, wenn ich ihm bloß den Toaster auf dreieinhalb Minuten einstellen sollte. Wenn ich den betreffenden Schalter justiert hatte, reckte er den Hals und spähte so lange in die Schlitze, bis das Brot geröstet war. Dann sah er den Toaster an, als ob es sich um einen von mir dargebrachten Beweis handeln würde, der ebenso bedeutend war wie ein Lehrsatz des Pythagoras.
    Es war im März 1992, als ich von der Akebono-Haushaltsservice-Agentur an den Professor vermittelt wurde. Die Firma befand sich in einer Kleinstadt am Seto-Binnenmeer. Ich war zwar die Jüngste von allen, die dort
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