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Unser Leben mit George

Unser Leben mit George

Titel: Unser Leben mit George
Autoren: Judith Summers
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der Oberfläche fröhlich und normal erscheinen zu lassen, wurde
Joshuas Gesicht im Laufe der Zeit genauso blass wie das seines Vaters, und die
Frage, die er mir jetzt immer häufiger stellte, war: »Muss Dad sterben?« »Ich
glaube nicht«, pflegte ich anfangs zu antworten, später sagte ich dann: »Ich
hoffe nicht.« Ich hatte Joshua versprechen müssen, ihn nicht anzulügen: wenn
Udi sterben musste, dann wollte er es vorher wissen. Also gab ich ihm, als es
nicht mehr zu vermeiden war, die Antwort: »Es ist schon möglich, dass er
sterben wird«, und schließlich wurde daraus: »Ja, wahrscheinlich.« Als Joshua
daraufhin eines Tages unschuldig fragte: »Wenn Dad stirbt, kriege ich dann
schulfrei?«, wurde mir klar, wie wenig er von der Endgültigkeit dessen verstand,
was uns bevorstand, und wie es sein Leben verändern würde.
    Nachdem Winslett Udi seine Frist von
drei Wochen verkündet hatte, wurde es unvermeidlich, ehrlich mit Joshua zu
sein. Ich wusste, dass Udi offen über seinen bevorstehenden Tod sprechen würde,
sowohl zu Besuchern als auch am Telefon. Wenn wir es Joshua nicht erzählten,
würde er es bestimmt irgendwann hören, was noch viel schlimmer wäre, als wenn
er es von uns erfuhr.
    Also erzählten wir ihm, dass Udi sehr
wahrscheinlich sterben würde, und vermutlich sehr bald. Es war eine
Entscheidung, die ich sofort bereute. Denn was bedeutete der Tod für einen
Achtjährigen? Der Gedanke, dass es jeden Moment mit seinem Vater geschehen
könne — was immer es war — , bereitete ihm schreckliche Ängste. Udis
Gegenwart verunsicherte ihn, und er entspannte sich nur langsam wieder. Doch
gegen Ende der drei Wochen entwarf er ein pyramidenförmiges Grab für Udi und
half seiner Halbschwester Hannah, seinen Vater zu versorgen. »Ich bin so stolz
auf dich, Dad«, sagte er, als er an Udis letztem Lebenstag bei seiner Pflege
half.
    Äußerlich ruhig und auf den Tod
gefasst, innerlich sich aufbäumend gegen seine geraubte Zukunft und die Schmach
des körperlichen Verfalls, starb Udi im Morgengrauen des 3. Juni 1998. »So
verdammt viel Leben, das noch nicht gelebt worden ist«, hatte er Marc Winslett
einige Wochen zuvor geschrieben. »Selbst wenn ich in meiner Zeit mindestens
zwei Leben gelebt habe, es war noch nicht genug!« Seine Feuerbestattung eine
Woche später, an der mehr als zweihundertfünfzig Personen teilnahmen, war eine
weltliche Feier seiner charismatischen Persönlichkeit, seiner Doppelkarriere
als Fernsehproduzent und Psychotherapeut, und seiner außergewöhnlichen Gaben
der Freundschaft und des Verständnisses für andere. Einmalig, heldenhaft,
altruistisch, herausfordernd, exotisch, ein Helfer für andere, unersättlich in
seinem Wissensdurst, loyal, idiosynkratisch, inspirierend, unerschrocken,
ehrlich, lebendig, engagiert, humorvoll, derb, unersetzlich: das waren nur
einige der Begriffe, mit denen man ihn beschrieb. Es gab Reden von alten
Freunden und früheren Fernsehkollegen, und Robert Johnston, ein junger Tenor,
der in der Kommune in Kew aufgewachsen war, in der Udi einst gelebt hatte, sang
seine Lieblingsarie Dies Bildnis aus der Zauberflöte. Der
Schauspieler John Thaw, einer von Udis vielen prominenten
Psychotherapie-Patienten, rezitierte das Gedicht To my Friends von Primo
Levi. Tabby und Hannah verlasen einen sehr ergreifenden Nachruf auf ihren
Vater, und Joshua trug ein Gedicht vor, das er selbst geschrieben hatte, in dem
er Udi mit einem Blatt verglich, das der Sturm weggetragen hatte. Niemand
konnte die Tränen unterdrücken.
    Meine Musikwahl ganz zum Schluss war
der große Klassiker der dreißiger Jahre von Irving Berlin, Cheek to Cheek. Es war immer »unser« Lied gewesen, obwohl Udi nie den Text behalten konnte, bis
auf eine Zeile — die erste. Es hallte durch den roten Ziegelbau des
Krematoriums, gesungen von Fred Astaire, während wir alle langsam hinausgingen.
Er war im Himmel, hieß es im Text — und alle mussten lachen.
    Mir kam der Gedanke, dass, wenn Udi als
Gastgeber dabei gewesen wäre, die Angelegenheit sich zu einer fantastischen
Party entwickelt hätte. Wie hätte er die Aufmerksamkeit und die vielen
schmeichelhaften Kommentare genossen! Und als Fernsehproduzent hätte er ganz
bestimmt auch noch die eine oder andere Regieänderung vorgenommen.
    Am nächsten Tag fuhren meine Schwester
und ich mit den Kindern nach Frankreich, um unseren schwerkranken 79jährigen
Vater David zu besuchen, den ich monatelang nicht mehr gesehen hatte. Als ich
ihn das letzte Mal
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