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Unser Leben mit George

Unser Leben mit George

Titel: Unser Leben mit George
Autoren: Judith Summers
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Steuer, dessen Kapitän gerade über Bord gefallen ist. Ich
hatte keine Ahnung, was ich machen oder wie ich reagieren sollte. War ich
überhaupt fähig, so fragte ich mich, eine alleinerziehende Mutter zu sein?
Könnte ich jemals so viel Lebensfreude empfinden, wie mein Mann sie gehabt
hatte? Sollten Joshua und ich vielleicht eine Therapie machen, um unsere Trauer
zu verarbeiten? Wie würde ich finanziell über die Runden kommen, wo mir doch
die einfachste Kopfrechnung schon Mühe machte? Sollte ich die Wohnung verkaufen
und etwas Kleineres suchen, wie man mir von allen Seiten riet, oder sollte ich
in der Wohnung bleiben, die Udi so sehr geliebt hatte? Ich fürchtete, das Ganze
womöglich nicht durchzuhalten und irgendwann einen Nervenzusammenbruch zu
bekommen. Aber da ich einen Achtjährigen zu versorgen und mich um tausend
praktische Dinge zu kümmern hatte, konnte ich mir das Gott sei Dank nicht
leisten.
    Außerdem gab es Angehörige, an die ich
ebenfalls denken musste. Schließlich waren Joshua und ich nicht die Einzigen,
die einen geliebten Menschen verloren hatten. Tabby und Hannah hatten auch
ihren Vater verloren. Meine Mutter hatte ihren Mann sowie ihren schillernden,
exzentrischen Schwiegersohn verloren. Meine Schwester hatte ihren Vater und
ihren Schwager verloren, der gleichzeitig ihr Freund und intellektueller
Sparringspartner gewesen war. Obwohl Sue uns nach Kräften unterstützte, schien
niemand viel Mitgefühl für sie übrig zu haben; alle waren zu sehr damit
beschäftigt, meine Mutter, Joshua und mich zu bedauern.
    Vielleicht befand ich mich in einer
Phase der Verleugnung, jedenfalls füllte ich die langen Sommertage mit
Aktivität und nahm mein altes Leben wieder auf, wobei ich versuchte, so munter
wie möglich zu wirken. Ich wollte nicht, dass man mich bemitleidete oder sogar
glaubte, ich käme nicht zurecht. Bei Joshuas Schulsportfest, weniger als eine
Woche nach Udis Tod, setzte ich ein Lächeln auf, zog die Schuhe aus, krempelte
die Hosenbeine hoch und nahm am Sackhüpfen der Eltern teil, um zu zeigen, dass
ich nicht nur nicht verzweifelt war, nein, ich war auch ebenso gut wie jeder
Vater, der daran teilnahm. Es ging auch sehr gut bis kurz vor der Ziellinie,
als ich mit dem Fuß umknickte und hinfiel. Hinkend ging ich als Letzte durchs
Ziel, was Joshua äußerst peinlich war.
    Da meine Mutter noch immer im Ausland
lebte, fuhren wir im August für zehn Tage nach Frankreich und machten bei ihr
Ferien. In den vergangenen Jahren hatte Joshua seinen Großvater und seinen
Vater zum Spielen am Swimmingpool gehabt. Jetzt war er von einer Gruppe
ängstlicher Weiber umgeben, bestehend aus seiner Großmutter, seiner Tante,
seiner jüngeren Cousine Jessica und mir. Als er mir unter Tränen erzählte, dass
Udi versprochen hatte, mit ihm Paraskiing auszuprobieren — ein grauenvoller und
schrecklich teurer Sport, bei dem man mit Wasserski an einem Fallschirm hinter
einem schnellen Boot hergezogen wird, etwas, wofür Joshua viel zu klein war, um
es allein zu machen — , war ich entschlossen, ihm dieses Erlebnis zu
ermöglichen. Trotz meiner Furcht vor Höhen und vor dem Wasserskilaufen ließ ich
mir den Fallschirm anlegen und schwebte bald hoch über dem Meer, mit Joshua
neben mir. Ich hatte eine solche Angst, dass ich mich kaum an Einzelheiten
erinnere, ich glaube, ich rief immer nur »Sei vorsichtig!« in Joshuas linkes
Ohr.
    »Ich muss dir was gestehen, Mama«,
sagte ein begeisterter und verlegen grinsender Joshua, als wir uns wieder auf
festem Boden befanden. »Dad hatte mir gar nichts versprochen. Ich wollte es nur
so schrecklich gern mal ausprobieren.«
    Ich war ihm nicht böse. Vielmehr sah
ich diese Art der emotionalen Erpressung als ein Zeichen, dass mein Sohn besser
mit unserer Situation zurechtkam als ich. Aber es war unvermeidlich und ganz
normal, dass der Verlust seines Vaters immer noch sehr schmerzhaft für ihn war.
Joshua brach oft in Tränen aus und konnte einfach nicht begreifen, dass die
Ärzte seinen Vater nicht hatten gesund machen können. Andere Leute hatten
Herztransplantationen und bekamen neue Lungen, warum konnte sein Vater keinen
neuen Magen bekommen? Dann gab es wieder Tage, an denen Joshua in meinem
Schlafzimmer auf dem Boden lag und vor Zorn tobte, weil andere Kinder noch
ihren Vater hatten, nur er nicht. Warum musste ausgerechnet er so
leiden? Da wir nicht religiös waren, hatte ich keine Antwort parat, die ihm ein
Trost gewesen wäre. Ich konnte ihm nur immer wieder sagen,
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