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Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Titel: Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
Autoren: Christoph Marzi
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Prolog
    Sie waren wegen ihr gekommen, so viel stand fest. Die Nebelnymphen, die in den frühen Morgenstunden am Strand anzufinden waren, hatten es ihr gesagt. Vor Tagen schon.
    Jetzt waren sie hier und nichts würde sie aufhalten.
    Nuria Niebla, die alt und gebrechlich wirkte, stützte sich auf ihren Gehstock und wankte zu dem Küchenschrank, der schäbig aussah wie sie selbst. Zwischen den Tassen, Tellern und dem anderen wertlosen Tand hatte sie die Papierrollen aufbewahrt, all die Jahre lang. Vergilbt waren sie, ganz fleckig und an den Ecken eingerissen. Nicht mehr so elegant, wie sie einst gewesen waren. Nur altes Papier, auf das vor langer Zeit ein Mädchen lebendige Bilder gemalt hatte. Damals nannte man sie einfach Nuria. Sie war ein ganz gewöhnliches Mädchen gewesen und nicht die alte Rabenmutter, die den Dorfbewohnern stets mit ihren Mittelchen und Wässerchen half, wenn sie ein Leiden plagte.
    Doch die Zeiten ändern sich. Jetzt war sie eine alte Frau, deren einziger Begleiter ein mürrischer Rabe namens Rabe war.
    Die Leute im Dorf dachten, dass sie weise sei, aber das war sie nicht. In ihrem Herzen war sie noch immer das junge Mädchen, das es auf die Insel verschlagen hatte und das hier zu zeichnen begonnen hatte.
    »Du solltest fortgehen«, hatten die Nebelnymphen ihr geraten. Dicht über den Wassern hatten sie geschwebt.
    »Ich bin zu alt zum Fortlaufen.« Das war die Wahrheit.
    »Aber sie werden kommen.«
    »Ich werde vorbereitet sein.«
    Ihr Entschluss hatte festgestanden. Doch jetzt, wo es so weit war, verließ sie der Mut.
    Vorsichtig öffnete sie die gläsernen Türen des Schranks und holte die Pergamentrollen hervor. Zeichnungen waren es und Karten, die sie all die Jahre über angefertigt hatte. Sie atmeten in ihren Armen wie lebendige kleine Kinder. Das brüchige Papier zitterte förmlich, als habe es schlecht geträumt.
    »Ihr müsst keine Angst haben«, flüsterte die alte Frau den Pergamentrollen zu. Die faltigen Hände streichelten zärtlich über die raue Oberfläche, spürten die Verzweiflung. »Es wird bald vorüber sein.« Sie senkte ihre Stimme, redete behutsam auf die Karten und Bilder ein.
    Doch das Papier, das jünger war als sie selbst, fürchtete sich noch immer. Es raschelte sein Papierrascheln und wisperte sein Papierwispern. Es flehte sie an, es nicht allein zu lassen.
    Nuria Niebla seufzte und schaute zum Fenster hinaus. Draußen erklangen die panischen Schreie der Menschen, die um ihr Leben rannten. Dabei hatte keiner der Dorfbewohner die geringste Ahnung, woher die Wesen kamen, die dem Arxiduc folgten. Wäre es ihnen bekannt gewesen, dann hätten sie sich erst gar nicht die Mühe gemacht zu fliehen. Denn dem, was im Dorf wütete, konnte man nicht entkommen. Allein den Versuch zu wagen war so unsinnig wie der, seinem Spiegelbild davonlaufen zu wollen. Nuria Niebla wusste, es würde keine Rettung geben. Das Dorf würde schon bald nicht mehr existieren und die Bewohner anderer Dörfer würden erschauern, wenn sie auch nur seinen Namen nannten.
    Die alte Frau schloss den Schrank.
    Ihr ganzes Leben lang hatte sie befürchtet, dass der Arxiduc sie finden würde. Jetzt war er hier und nichts auf der Welt konnte sie retten.
    »Ihr müsst keine Angst haben«, flüsterte sie dem bebenden Papier erneut zu. Die Pergamentrollen raschelten aufgeregt, tuschelten untereinander.
    Dunkle Schatten huschten draußen am Fenster vorbei. Wie Flügelschläge aus dunklen Wolkenfetzen, so sahen sie aus. Nuria Niebla spürte, wie die Kälte bis in die behagliche Stille ihrer Küche eindrang.
    Die alte Frau ließ sich auf einem Stuhl nieder, der mitten im Raum stand. Ein alter Stuhl aus Holz war es, einer, den sie selbst gezimmert hatte, vor vielen Jahren. Zu ihren Füßen glänzten die Dielen feucht und der beißende Geruch des Petroleums, das sie überall um den Stuhl herum verschüttet hatte, stieg ihr in die Nase.
    Die Pergamentrollen hielt sie fest im Arm, drückte sie an sich, fest, ganz fest.
    So würde der Arxiduc sie vorfinden. Eine Frau mit Kittelschürze und schmutzigem Rock, die wie eine Bauersfrau aus der Gegend aussah und doch keine war. Ein Kopftuch machte noch lange keine Bauersfrau. Sie war mehr gewesen. Jemand, den die Welt schon fast vergessen hatte.
    Der Rabe, der auf dem Küchentisch stand, senkte den Kopf und betrachtete sie traurig. Die beiden kannten einander noch nicht lange, aber Nuria Niebla war die Rabenmutter des Dorfes, schon immer gewesen, und hatte sich des einsamen
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