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Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Titel: Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
Autoren: Christoph Marzi
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Tieres angenommen. Jetzt konnte sie ihr eigenes Antlitz in den Augen des Raben erkennen.
    »Sie werden sich holen, was du ihnen niemals geben wirst«, hatte der Rabe zu ihr gesagt. Nuria hatte ihm von den Nebelnymphen erzählt, sie vertraute ihm. »Der Arxiduc wird keine Gnade walten lassen. Dein Verderben wird auch das aller anderen sein.« Er hatte sie mit seinen pechschwarzen Rabenkulleraugen angesehen und sie hatte gewusst, dass er recht hatte.
    Jedoch getan hatte sie nichts.
    Nur gewartet.
    Darauf, dass sie zur Insel kommen würden.
    Wie töricht sie doch gewesen war!
    Jetzt war es so weit und jene, die dem Arxiduc dienten, brachten Leid und Finsternis über das gesamte Dorf. Der Rabe hatte es vorhergesehen.
    Nuria Niebla schloss die Augen. Das, was sie dem Arxiduc niemals würde geben wollen, hielt sie zärtlich in ihren Armen wie ein Kind, das man trösten und beschützen musste.
    Die alten Pergamentkarten zeigten Länder und Kontinente, Wälder und Ebenen. Breite Straßen kreuzten sich auf ihnen mit schmalen Wegen, Flüsse strömten in die blaue See. Jeder Strich und jede Linie hatte ihre Bestimmung. Papier nur, gewiss, aber eines, in das ihr Herzblut geflossen war.
    Niemals dürfte der Arxiduc diese Zeichnungen benutzen. Unvorstellbar wäre, was dann geschähe.
    »Er wird sie dir wegnehmen«, krächzte der Rabe auch jetzt noch.
    Die Schreie draußen verstummten mehr und mehr. Es ging zu Ende. Nichts würde von dem Dorf an den Steilklippen nahe dem Port Xarraca übrig bleiben. Nur Schatten würde es hier geben. Finsterste Nachtfetzen, die in den Ruinen der Häuser lauern und arglosen Wanderern ganz sicher zum Verhängnis werden würden.
    »Du musst etwas für mich tun«, sagte die alte Frau zu dem Raben.
    Die schwarzen Knopfaugen betrachteten sie stumm.
    Vor dem kleinen runden Fenster wurde es mit einem Mal so dunkel, als habe draußen jemand das Mondlicht ausgeschaltet. Alle Laute verstummten. Das klägliche Wimmern der Dorfbewohner wich der Stille, die der alten Frau die Tränen in die Augen trieb.
    »Er ist hier«, krächzte der Rabe.
    Nuria spürte, wie die Angst in ihr höher kroch.
    »Du musst über die See fliegen«, wisperte sie.
    »Was soll ich tun?«
    Sie sagte es ihm.
    »Du darfst keine Zeit verlieren.«
    Für einen kurzen Augenblick nur begegneten sich ihre Blicke. »Hast du mich verstanden?«
    Der schwarze Vogel nickte, wie nur Raben es tun können. Dann trat er vor, hüpfte der alten Frau auf die Schulter und berührte ganz sanft ihr Gesicht mit dem Schnabel. Es war eine zärtliche Geste, ein letztes Lebwohl. Beide wussten, dass sie einander nie wieder begegnen würden.
    Dann flog er aus dem Fenster, hinaus in die Nacht. Und noch bevor der letzte Flügelschlag verklungen war, öffnete sich die Tür. Ein Mann stand dort, ein Schattenriss nur.
    »Arxiduc«, sagte die alte Frau.
    Die Gestalt rührte sich nicht.
    Aber die Schatten, die den Arxiduc umgaben, flossen in das Haus hinein. Sie reckten ihre Finsterfinger nach der alten Frau, wollten sie packen und ihr in die Augen fließen.
    Doch Nuria Niebla lächelte, weil sie genau so sterben wollte.
    Mit einem Lächeln im Gesicht.
    Sie wusste, dass der Rabe die anderen warnen würde. Er würde über Meere und Länder fliegen, um sein Ziel zu erreichen. Den letzten Wunsch würde er seiner Rabenmutter nicht abschlagen, komme, was wolle.
    »Flieg zur Cala Silencio«, hatte sie ihm aufgetragen. »Flieg wie der Wind und ruf nach Malfuria.«
    Das Streichholz, das sie die ganze Zeit über versteckt in ihrer Hand gehalten hatte, flammte zischend auf. Nuria Niebla ließ es zu Boden fallen und spürte die lodernde Hitze. Die Schatten schrien auf, gepeinigt und überrascht. Und während das Feuer sich wie ein hungriges Tier an den anderen Häusern des Dorfes labte, stand der Arxiduc wie ein Schattenriss an den Klippen und sah dem Raben hinterher, der kaum mehr als ein schwarzer Punkt in der Nacht war.

Die singende Stadt
    Sie kam jeden Tag hierher und sprach mit dem Wind, der meistens um diese Zeit zur Burg hoch über dem Hafen wehte und in den knorrigen Zweigen der Pinien hockte. Catalina Soleado kannte den wispernden Wind schon seit ihrer Kindheit und wusste, auf welchen Namen er hörte: El Cuento. Warm war er wie die Sonne und so geheimnisvoll wie eine Geschichte, die ihr leise um die Nase wehte und selbst dann noch ein Lächeln in das gebräunte Gesicht mit den hellen grünen Augen zaubern konnte, wenn niemand sonst dies vermochte. Auch heute, an diesem Tag,
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