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Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Titel: Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
Autoren: Christoph Marzi
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nur wollte, ein unauffälliges Lüftchen sein konnte, belauschte heimlich die Fischer, wenn sie in ihren Booten saßen. Still und leise nahm er sich der Wörter an und die Seeleute ahnten nicht im Geringsten, dass ihre Geschichten mit dem Wind über die Wellen flogen, um irgendwann und irgendwo weitererzählt zu werden.
    »Du bist ein neugieriger Wind«, stellte Catalina nicht zum ersten Mal fest.
    »Und du bist eine ziemlich neugierige Zuhörerin«, konterte der Wind.
    Catalina grinste. Zugegeben, da war etwas dran. Sie liebte seine Geschichten, die von fernen Abenteuern, lauernden Gefahren, bösartigen Stürmen, entführten Mädchen und wagemutigen Kapitänen erzählten.
    »Diese Geschichten sollten anders sein«, beschwerte Catalina sich und schüttelte unwillig ihre Zöpfe. »Eigentlich sollten sie von wagemutigen Mädchen und entführten Kapitänen erzählen.« Immerzu waren es die Mädchen, die sich hilflos ihrem Schicksal ergaben und gerettet werden mussten. Sie sorgten für Verwirrung, weil sie in kniffligen Momenten genau das Falsche taten. Sie wirkten töricht und tollpatschig, romantisch und hilflos.
    »Ich gebe die Geschichten nur wieder, wie ich sie gehört habe.«
    »Vermutlich haben sich Männer das alles ausgedacht«, grummelte Catalina.
    El Cuento wehte ihr um die Füße, die schmutzig waren, voller Sand, und in ausgetretenen Sandalen steckten. »Du kannst die Geschichten ja aufschreiben und aus den wagemutigen Kapitänen wagemutige Mädchen machen.«
    »Ich bin Kartenmacherin und keine Schreiberin.«
    »Eine reichlich junge Kartenmacherin«, neckte er sie, »oder vielmehr: ein junges Mädchen, das Kartenmacherin werden will.«
    »Ich bin vierzehn!«
    »Vierzehn ist noch jung«, wehte der Wind ihr die Worte um die Ohren.
    »Ach«, sagte sie spöttisch. »Dann bist du ein alter Besserwisser.«
    El Cuento lachte sein leises Lachen und gemeinsam schwiegen sie einen Moment. Doch plötzlich erhob er sich und strich ihr über die Wange.
    »Du weißt, welcher Tag heute ist, nicht wahr?«, fragte er mit einem sanften Wispern.
    Unwillig sah sie hoch und schüttelte den Kopf. »Ich will nicht darüber sprechen.« Ihr Blick war auf die wogenden Wellen gerichtet und ihre Augenbraunen waren plötzlich zornig zusammengekniffen.
    Irgendwo jenseits des tiefen Blaus lagen Cala Silencio und ihr altes Leben. All die Dinge, die einmal passiert waren. Dinge, die vorüber waren.
    »Seitdem du in der Stadt lebst, hast du nie wieder von ihm gesprochen.«
    Wie recht El Cuento doch hatte. Und sie hatte auch nicht vor, das zu ändern.
    »Weil es da nichts zu reden gibt. Er ist tot.«
    »Du warst nicht mehr schwimmen seit jenem Tag.«
    Sie musste schlucken, blinzelte. »Warum willst du ausgerechnet jetzt darüber sprechen?«
    »Ich bin der Wind«, sagte der Wind, »und ich habe ein gutes Gedächtnis.«
    Sie gab sich geschlagen. Heute jährte sich der Tod ihres Vaters zum zweiten Mal und Catalina hatte ihr Möglichstes versucht, um die Gedanken daran zu verscheuchen.
    »Papa hat Tage wie diesen hier gemocht.« Sie musste unwillkürlich lächeln. »Er hätte nicht gewollt, dass ich traurig bin. Leider hat er nur vergessen, mir zu verraten, wie das geht.«
    Sie streckte die Hand aus und El Cuento ließ sich darauf nieder, wehte ihr um die Finger.
    »Du warst seit jenem Tag nicht wieder im Meer«, sagte er.
    »Ich mag die See nur aus der Ferne. Ich weiß jetzt, was sie tun kann.« Catalina sagte das ohne Bedauern. Es war eine Feststellung, denn es war das Meer, das ihren Vater zu sich genommen hatte.
    »Möchtest du weinen?«
    Energisch sagte sie: »Nein!«
    »Aber warum nicht? Weinen Menschen denn nicht in solchen Momenten?«
    El Cuento versuchte seit Jahren, die Menschen und ihre Verhaltensweisen zu verstehen. Er schlich sich heimlich in die Häuser und versteckte sich in den Takelagen der Schiffe, und das nur, um zu lernen, warum die meisten Menschen sich so verhielten, wie sie es taten. »Die Winde verwehen zu schnell, um Gefühle zu haben«, sagte er. Nur deshalb stellte er seine Fragen so unverhohlen.
    Catalina legte weitaus mehr Entschiedenheit in ihre Stimme, als sie in Wirklichkeit empfand. »Ich weine nicht mehr«, sagte sie.
    »Du erinnerst dich an den Tag?«, fragte El Cuento.
    »Natürlich erinnere ich mich daran.« Sie merkte, wie ihre Stimme dunkel wurde. Wie konnte sie sich nicht daran erinnern, an diesen sonnigen Herbstag, der zum schrecklichsten in ihrem Leben werden sollte? Alles war noch da und würde auf immer
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