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Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Titel: Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
Autoren: Christoph Marzi
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für einen Moment die Augen und konnte das Meer riechen. »Es geht mir gut.« So schnell waren die Worte aus ihr herausgesprudelt, dass dies wohl die Wahrheit sein musste. Sie öffnete die Augen wieder und blinzelte in die Sonne hinein.
    Noch vor wenigen Monaten hätte sie nicht gedacht, dass sie das je sagen würde. Doch Barcelona und die Windmühle des Kartenmachers Márquez waren wirklich so etwas wie ihre zweite Heimat geworden. »Man nennt Barcelona die singende Stadt«, hatte ihre Mutter ihr beim Abschied zugeflüstert. »Sie wird auch für dich singen, Catalina.«
    Catalina hatte nicht daran glauben können, nicht damals, als ihre Mutter sie ohne ein Wort der Erklärung bei Márquez zurückgelassen hatte. Und doch hatte sie recht behalten.
    Wenn Catalina heute in La Marina unterwegs war und die winzigen Fische mit den mosaikbunten Schuppen an ihrem Kopf vorbeiflogen oder einfach nur hoch oben auf den Laternen hockten, dann wusste sie, dass sie kaum einen Ort auf der Welt den Straßen Barcelonas vorziehen würde.
    Ihr Blick glitt den Hang hinab. Mächtige Festungsmauern umarmten die weißen Häuser, die sich eng an den Berg schmiegten, der vom Westen her den großen Hafen und La Marina wie auch die Steilklippen und den Rest der Stadt überragte. Montjuic war der einzige Berg in der Gegend. Stieg man beharrlich all die in den Stein gehauenen Treppenstufen empor und lief dann durch das Labyrinth aus engen Gassen, dunklen Tunneln und verzweigten Wegen, so erreichte man schließlich das Kastell. Niemand lebte mehr hier oben. In den einsamen Höfen wuchs dichtes Unkraut. Moosmarder und winzige, flink dahinhuschende Eidechsen versteckten sich in den Mauern. Man konnte sie in ihren Nestern rascheln hören, wenn man nur lauschte. Gleich neben dem Kastell befand sich eine Kirche, die ebenfalls alt war, in der aber noch ein Pastor lebte – und vor der Kirche schließlich wuchsen auf einem kleinen Platz Palmen und Pinienbäume.
    Dies war Catalinas Lieblingsort. Die Windmühle, in der sie gemeinsam mit dem Kartenmacher Arcadio Márquez wohnte, befand sich weiter unten am Berg, in Dalt Vila, einem der ältesten Stadtteile Barcelonas.
    Catalina lebte seit fast zwei Jahren in der Stadt und sie wusste noch immer nicht, warum ihre Mutter sie damals aus ihrer Heimat im Südwesten hierhergebracht hatte. Alles war so plötzlich geschehen. Die Blumen auf dem Grab ihres Vaters waren noch nicht einmal verwelkt, da hatte Sarita Soleado ihrer Tochter verkündet, dass sie sich für eine lange Reise bereit machen sollte. Einen Grund hatte sie nicht genannt. Dafür hatte sie in Windeseile gepackt und so war Catalina ihrer Mutter nach Barcelona zu Arcadio Márquez gefolgt, bei dem sie nach dem Wunsch ihrer Mutter die Kunst des Kartenmachens erlernen sollte.
    Ihre Mutter war noch am selben Tag weitergezogen. Wohin, das hatte sie nicht sagen wollen – oder auch nicht sagen können. Catalina war bei Márquez geblieben, ohnmächtig in ihrem Kummer und ihrer Einsamkeit.
    Doch dann war sie dem Wind begegnet, der ihr in die singende Stadt gefolgt war. El Cuento hatte ihr geraten, die Augen zu öffnen und die Stadt genauer anzuschauen.
    »Viele Dinge«, hatte er ihr gesagt, »bleiben uns verborgen, weil wir sie gar nicht erst sehen wollen. Du darfst keine Angst haben. Musst offen sein für das, was vor dir liegt.«
    So hatte sie also die Augen geöffnet und die Furcht war tatsächlich verschwunden.
    Denn eine neue Welt hatte sich vor ihr aufgetan. Eine Welt, die voller Wunder war und in der das Leben nur so pulsierte.
    Noch immer konnte Catalina staunen, wenn sie die Dampfdroschken und Straßenbahnen erblickte, die mit zischenden Lauten und schnaubendem Getöse durch die Straßen fuhren. So viele Menschen lebten in der Stadt und keiner glich dem anderen. Überall gab es Musik und Tänze in den Gassen, auf den Plätzen und an den breiten Kanälen. Selbst wenn keine Lieder erklangen, so lebte die Musik in den Gesichtern der Menschen fort wie eine niemals enden wollende Melodie. Ihre Mutter hatte recht gehabt. Die Stadt sang auch für sie.
    Catalina streckte sich. Sobald die Siesta zu Ende war, musste sie noch in den kleinen Laden am Placa Molina. Sie sollte für Márquez bunte Tusche und tiefblaue Tinte erstehen, dazu einige neue Federn für die Stifte. Bald würde es Zeit werden, aufzubrechen. Doch vorher wollte sie noch ein paar Geschichten von El Cuento hören. Ganz besonders heute wollte sie darauf nicht verzichten.
    El Cuento, der, wenn er
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