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Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte

Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte

Titel: Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
Autoren: Mojtaba Milad; Sadinam Masoud; Sadinam Sadinam
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ich ihm dankbar. »Das ist wohl besonders ein Privatuni-Ding, glaube ich. Ich muss mir auch vieles anhören, wofür ich mich null interessiere. Und dann bleibt kaum Zeit für die guten Projekte. Am Ende muss ich ja die Klausuren bestehen.«
    »Wenn du vor der Klausurenphase in unsere Bibliothek gehst«, griff ich Milads Stichwort auf, »kriegst du keinen Sitzplatz mehr. Einige hocken da Tag und Nacht. Mit viel Red Bull und Koffeintabletten machen sie sogar Nächte durch. Neulich traf ich mich mit einem Kommilitonen, um zusammen zu lernen. Er hat mir von seinem ›tollen‹ und ›effizienten‹ Schlafrhythmus erzählt: Er schlafe nur noch vier Stunden und lerne schon, wenn es noch dunkel sei. Später am Tag halte er zusätzlich ein Nickerchen. Und weil sein System so wunderbar funktioniert, ist er nach einer halben Stunde vor mir am Tisch eingeschlafen. Aber ich will ihm keinen Vorwurf machen. Die Uni zwingt einen zu solchem Unsinn.«
    Masoud schüttelte nur den Kopf. »Ich in Bremen, du in Vallendar, Milad in Bruchsal. Wir sind über halb Deutschland verstreut, aber es kommt mir so vor, als wären wir alle in derselben Uni gelandet. Meine Politikkurse sind oberflächlich und verherrlichend. ›Die Würde des Menschen ist unantastbar‹ – das steht im Grundgesetz. Aber was ist mit uns, die so viele Jahre gedemütigt wurden, bis wir die Lust am Leben verloren hatten? Oder mit den anderen, die wie ein Stück Vieh mitten in der Nacht von Polizisten überfallen und abgeschoben werden? In Vorlesungen über Zeitgeschichte wird nur die Mauer kritisiert, aber niemand erwähnt, dass die Residenzpflicht heute noch sehr vielen Menschen verbietet, sich in diesem Land frei zu bewegen. Und dass wir nicht wählen dürfen, weil wir nach so vielen Jahren immer noch als Ausländer gelten, spricht aller Demokratie hohn.«
    »Selbst der Unterricht an der Schule war bei Weitem nicht so oberflächlich«, setzte ich hinzu. »Masoud, weißt du noch, wie wir sogar ein wenig von Karl Marx gelesen haben? Im ersten Semester erwähnte ein Kommilitone nur mal seinen Namen und schon haben ihn alle ausgelacht. Natürlich wusste ich, dass die WHU eine Wirtschaftsuni ist, aber ich hatte nicht erwartet, dass sie so wenig Raum für Kritik zulässt. Über das Wirtschaftssystem wird kein bisschen nachgedacht. Wir bekommen nur seine Spielregeln eingetrichtert. Damals, als ich in den Zeitschriften las, die WHU sei eine Elite-Uni, dachte ich, die Diskussionen dort befänden sich auf einem sehr hohen Niveau. Ich hoffte, das Studium würde mir helfen, die Welt besser zu verstehen. Aber es gibt gar keine Diskussionen. Wir sollen nur maschinell auswendig lernen.«
    »Aber die nennen sich doch Elite. Ist da gar nichts dran?« Endlich sagte auch Madar etwas. Endlich war sie nicht nur geschockt.
    »Die Inhalte sind es jedenfalls nicht, die das Elite-Etikett rechtfertigen. Wir lernen ja genau dasselbe wie Studenten an anderen Unis – nur mehr. Ich erinnere mich, dass für eine Vorlesung mal ein externer Dozent eingeladen worden war. Bei einer Sitzung fragte er den vollen Hörsaal, ob jemand den neuesten Sammelband einiger berühmter Wirtschaftswissenschaftler kenne. Ihr hättet seinen offenen Mund sehen müssen, als sich kaum jemand meldete. Wir lesen keine Bücher, wir büffeln PowerPoint-Präsentationen. Und manchmal sind die Klausuren sogar identisch mit denen aus den letzten Jahren. So kann man noch gezielter auswendig lernen.«
    »Bei mir ist es genauso«, stimmte Milad zu. »In der Vorlesung wird nicht diskutiert. Zwei oder drei Nächte vor der Klausur laden wir uns dann die Präsentation runter und hämmern sie uns rein. Bei der Prüfung wird alles wieder unverdaut erbrochen. Wir nennen das Bulimie-Lernen .«
    »Aber es gibt da etwas, worin die WHU sehr gut ist. Sie wirbt damit, dass die Mehrheit ihrer Absolventen schon vor dem Uni-Abschluss einen Arbeitsvertrag habe. Und das stimmt wirklich. Ist aber kein Wunder. Wir müssen in den sechs Semestern zwei Praktika machen. Außerdem sind fast jede Woche Unternehmensvertreter auf dem Campus und machen für sich Werbung. So werden früh Beziehungen geknüpft.«
    Masoud vollführte mit den Händen eine Geste, als wäre ihm nun alles klar. »Schnell einen Job finden und möglichst viel verdienen – das ist anscheinend ihr Maßstab, ihre Begründung, warum sie sich Elite nennen. Und damit haben sie ja nicht einmal unrecht. Elite bezeichnet ja nichts anderes als eine Menschengruppe, die in einem bestimmten
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