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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr
Autoren: Christina-Maria Bammel
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sich stattdessen ausgreifend, stolz und farblich abgestimmt in voluminösen Designervasen im Interieur großzügig sanierter Wohnungen in Berlins alter, neuer Mitte.
    Beide, Mutter wie Kind auf dem Bild Botticellis, scheint ein Schimmer von Goldfäden zu umgeben. Sie verfließen scheinbar magisch mit den Strahlen des Himmels. Das Blau des Himmels ergänzt sich mit dem königlichen Gewand-Blau der Mutter. Der Junge auf ihrem Schoß ist schon kein Neugeborenes mehr. Viel zu erwachsen für ein Kind schaut er um sich. Vielleicht bemüht er sich ja, den Betrachter zu betrachten. Anders die Augen der Mutter. In die Weite gerichtet, gehalten in Melancholie, scheint sie schon im Spiel mit dem Kleinkind jenen tödlichen Freitag zu sehen: Karfreitag.
    Ihr Blick erzählt ihr Wissen um die Bedrohungen des Lebens, nicht nur dieses einen Lebens auf ihrem Schoß, allerdings dieses Lebens besonders. Botticellis Bild vom gleißend schönen Anblick der jungen Mutter holt genau in ihren Blick die Gratwanderung zwischen Leben und Tod, ohne dass dem Tod das Wort geredet wird.
    Der Goldgrund des Bildes bleibt – gleich dem Goldgrund auf dem ich das eigene Leben gemalt sehen kann. Ob das auch jene Betrachter spüren, die sich vor Botticellis Schöpfung ehrfürchtig und die Kunst liebend versammeln; Betrachter, die sich selbst eigentlich als religiös unmusikalisch, gottesentwöhnt, alltagspragmatisch oder einfach nur agnostisch bezeichnen würden?
    Botticelli lässt es – zumindest genau vor seinem Bild – weihnachtlich werden, indem er wahrhaftig bleibt, was die Schönheit des neuen Lebens und dessen Abgründigkeit angeht. Weihnachtlich deshalb, weil auch die Geburtsgeschichte, |156| freigelegt von aller Folklore, selbst über diesen Zusammenhang keinen religiös-besinnlichen Kitschschleier legen möchte. Spätestens hier erübrigt sich jede Besinnlichkeitspoesie, spätestens hier greift mehr nach uns als die religiöse Kurzstimmung der Tage Ende Dezember, die es so schwer haben, zu wirklich strahlend hellen Tagen zu werden.

    Anderes als Besinnlichkeitspoesie ist gefragt, um wirklich mit der Realität dieses Geheimnisses gehen zu können.
    Anderes ist nämlich auch gefragt – genau von den Menschen, die auf unserem Stadtspaziergang unterwegs waren und wissen, wie nah Leben und Tod beieinanderstehen. Es ist der Realismus der Großmutter, die keinen künstlichen Ersatz für die stets fehlende Familie der Enkelin herbeizaubern wird – oder der Realismus des jungen Anwalts, der beim Kellnern für Flüchtlinge und Wohnungslose fast belustigt Strukturen der eigenen Familienwirklichkeit wiedererkennt. Und das befriedet ihn unerwartet – immerhin für eine Nacht.
    Weder die Pflegeväter noch Jette am Parkplatz und schon gar nicht der frisch getrennte Ehemann und Vater würden sich mit weihnachtlichen Besinnlichkeitsphrasen zufriedengeben. Es würde ihr Gefühl für das, was die Hoffnungskraft der Weihnachtsgeschichte bedeutet, zutiefst irritieren, vielleicht sogar verletzen.

    Die Geschichte, wie sie in Lukas’ zweitem Kapitel und in den ersten beiden Kapiteln des Matthäusevangeliums erzählt wird, ist weit davon entfernt, »besinnlich« zu sein. Sie hat alle Elemente von dem, was menschliches Leben unerträglich und wunderbar machen kann. Sie verortet Gott im Dunkeln, am wehrlosen Anfang eines Menschenlebens. Darin, sagen die Evangelisten, besteht das Wunder, dass wir nicht etwas, sondern jemanden als ein Geschenk sehen können: einen Menschen. Ein eigentlich schmuckloses Wunder, das Weihnachten ein einzigartiges Gesicht gibt.

    |157| Vielleicht können wir selbst noch heute die Evangelisten sagen hören, dass das Wunder des Neuanfangs dort sichtbar und spürbar wird, dass die Engel hörbar singen und tanzen, wo Gott und Mensch sich begegnen. Wo das geschieht, und das geschieht in den Neuanfängen, egal zu welcher Jahreszeit, wird Weihnachten. Oder anders: Wenn Realisten zu staunen beginnen, dann wird Weihnachten. Das schreibe ich in der Hoffnung, dass auch eine Frau Bulla zu staunen vermag über etwas höchst Verwunderliches.
    Lukas redet in seinem frohen Bericht nicht vom Wunder, zumindest nicht von der Art Wunder, die in den weiteren seiner und der anderen Evangelisten Berichte begegnen – kein Heilungswunder, kein Brotwunder, sondern das Wunder des Lebens.
    Notiert ist, dass eine Erscheinung – oder war es nur die Stimme ihrer Sehnsucht? – ein paar Landleute, die Geschichte hat daraus Hirten gemacht, in Gang gesetzt hatte. Sie
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