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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr
Autoren: Christina-Maria Bammel
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wieder gegangen.
    Briefe schreiben, Päckchen packen ist nicht meine Sache. Aber Anfang Dezember haben wir, meine Mutter und ich, dann doch eine Sendung Richtung Königsberg, Amalienau, auf die Post gebracht.«

|146| VII
Noch mal auf Anfang: Weihnachten für Realisten
    »Wenn ich das Gefühl habe, es müsste mal wieder etwas weihnachten, dann lese ich kein Buch, sondern lasse mich berühren von Stimmungen oder bestimmten Atmosphären – beispielsweise eines Liedes, eines besonders geschmückten Raumes, einer besonders netten Feier. Aber ein Buch?« Ich habe diesen Zweifel öfter hören dürfen. Kann schon sein, dass die Worte des Evangelisten Lukas ein mit Patina überzogenes Grundrauschen bleiben. Mag sein, dass auch ein Buch dieser Tage keinen einzigen Weihnachtsvorbehalt ausräumt, auch nicht den, dass die »Realitäten« unserer Zeit – wohl kaum einer Zeit! – mit dem vereinbar sind, was Weihnachten für möglich hält. Mag sein, dass etwas von den Fremdheitsgefühlen bleibt, die so viele Menschen spüren, wenn sie nach langer Zeit mal wieder – ob zum Weihnachtsgottesdienst oder bei anderer Gelegenheit – diese Krippe mit dem Gotteskind sehen. Mag sein, dass all die Gloria-Töne der Weihnachtstage doch wieder nur die alte Traurigkeit, dieses alte Gefühl der Leere, auf den Plan rufen. Vielleicht bleibt es so, auch nach dem hier unternommenen literarisch-weihnachtlichen Stadtspaziergang. Aber selbst dann besteht eine Möglichkeit, einen einzigen Gedanken zumindest für plausibel zu halten, wenn er auch nicht gleich »geglaubt« werden kann. Dieser Gedanke ist nahezu simpel und zieht sich durch alle Begegnungen und Erfahrungen. Dieser Gedanke ist in seiner Einfachheit weihnachtlich: Am Anfang ist Beziehung und sie wird immer wieder neu entdeckt. Ob sich im Licht dieses Anfangs verlorene oder verquere Beziehungen wieder neu finden und damit gerettet werden können, ob sich im Licht dieses Anfangs Liebesgeschichten |147| umschreiben lassen, es bleibt offen. Nur der Anfang ist bekannt: Beziehung. Am Anfang ein Gott, der nicht relationslos bleiben möchte, sondern ein Beziehungsangebot versucht. Sein Angebot: er selbst als hilfloses Kind.

    Es ist weit nach Mitternacht. Ich habe einen Moment Zeit, diesem einen Gedanken nachzuhängen. Die Atmosphäre des letzten Gottesdienstes liegt noch in der Luft. Die Kirche ist warm. Für heute ziehe ich den Stecker der Weihnachtsbaumbeleuchtung. »Schade, dass er nicht das ganze Jahr hier steht …«, hatte ein Mädchen bedauert. Das war vor über sechs Stunden, mitten in einer aufgeheizten Stimmung. Am Altar wurde rasch das Krippenspielheu weggesaugt, auf der Empore probte schon die Kantorei für den nächsten Gottesdienst. Da habe ich sie das sagen hören: »Schade, dass er nicht das ganze Jahr hier steht …«
    Jetzt ist er aus. Straßenbeleuchtung von draußen fällt matt durchs mittlere Kirchenfenster. Keinem wünsche ich jetzt, dass er auf der Straße bleiben muss: keiner Jette, keiner Anne. Denen, die Nachtarbeit hinter sich haben und auf dem Weg nach Hause sind, wünsche ich zwar keine Sterne, aber ausreichend Licht – innen wie außen. Den Allerkleinsten – ob im Wärmebettchen auf Station oder schon im eigenen Bett – wünsche ich Zeichen der Liebe. Allen, die ohne »FAMILJE« feiern, so wie wahrscheinlich Monika, wünsche ich, dass sie irgendwann versöhnt sein können, mit dem, was sie erleben oder was ihnen fehlt. Lola und den Räuberkindern vor allem wünsche ich, dass sie sich noch lange darüber freuen können, was sie für eine Spitzenbesetzung im Krippenspiel waren, jenem Spiel, das Teil des poetischen Spiels auch dieser Nacht ist. Denen, die jetzt im Dunkeln sitzen, weil sie es so wollen oder nicht anders können, wie die unbekannte Alte neben dem Soldatenfriedhof Berjosa, würde ich auch gern etwas Gutes wünschen … fahre aber vor Schreck zusammen, als auf der anderen Seite die Tür zum Kirchraum mit Wucht aufspringt. In einen Pelzmantel gehüllt, eilt eine Frau – vielleicht Ende 50, Anfang |148| 60 – mit elegant-energischen Schritten durch die Kirche auf mich zu. Je näher sie kommt, desto klarer sehe ich: Sie ist ratlos. Ob hier eine Perlenkette abgegeben worden sei? Die hat sie nämlich gerade verloren – und es kann nur hier in der Kirche gewesen sein. Den Weg nach Hause sei sie schon mehrmals abgelaufen. Da hätte sie nichts gefunden.
    Eine Perlenkette im frisch fallenden Schnee zu finden, es gibt Aussichtsreicheres, denke ich und lasse
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