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In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
Autoren: John Burnside
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Ende Mai 2001, etwa zehn Tage nachdem ich ihn zuletzt gesehen hatte, wurde Mats Sigfridsson einige Kilometer von hier aus dem Malangenfjord gezogen. Es heißt, er sei bei Skognes ins Wasser gegangen und zurück zur Anlegestelle bei Straumsbukta getrieben worden, also nicht weit von dort, wo ich wohne – und ich rede mir gern ein, das Meer hätte Erbarmen mit dem schmächtigen Jungen gehabt, den es tötete, hätte ihn schon heimgetragen, als ein Fischer in der Sommerdämmerung den auffälligen, fast weißen Haarschopf entdeckte und den Leichnam mit gebotener Sorgfalt, Trauer und routiniertem Geschick ans Ufer brachte. Auf halbem Weg nach Kvaløya und der Fahrrinne, in der die großen Kreuzfahrtschiffe und Frachter aus Tromsø hinaus aufs offene Meer fahren, fand man im Fjord ein dahintreibendes Boot, das, wie sich später herausstellte, einen knappen Kilometer weit von Mats’ Haus sicher vertäut gewesen war. Letzteres schien daraufhin zu deuten, dass er es gestohlen hatte, nur war dies keine einleuchtende Erklärung, da als Dieb wohl niemand so wenig infrage kam wie Mats Sigfridsson und kein Mensch auch nur erahnen konnte, was der stille, gut erzogene Junge mitten in der Nacht auf dem Wasser gesucht haben mochte. Das Ganze blieb ein Rätsel, und jeder hegte eine eigene Theorie, warum Mats in diesem Boot gewesen war und was er vorgehabt haben könnte. Die einen redeten von Selbstmord: Das Schuljahr war zu Ende, und wie ich selbst hatte Mats gerade alle Prüfungen abgelegt, die über seine Zukunft entscheiden würden – für jeden Achtzehnjährigen eine anstrengende Zeit; doch er hinterließ keinen Abschiedsbrief, und es gab auch keine Anzeichen dafür, dass er in den Wochen zuvor deprimiert gewesen wäre. Wenn überhaupt etwas anders gewesen war, dann hatte er eher glücklicher als sonst gewirkt. Einige Erwachsene meinten, da sei bloß ein dummer Streich schiefgelaufen, eine der jugendlichen Eskapaden, auf die sich Jungen in seinem Alter aus unerfindlichen Gründen gern einlassen – niemand aber, der Mats kannte, schenkte dieser Theorie Glauben. Ein paar Gleichaltrige in der Stadt munkelten von einem Verbrechen, nur hatte kein Mensch auch bloß die geringste Ahnung, warum irgendwer ein Interesse daran gehabt haben sollte, einem Jungen wie Mats Sigfridsson etwas anzutun.
    Was mich betrifft, so hatte ich keine eigenen Theorien – jedenfalls damals nicht. Mats ging in meine Klasse, und ich hatte ihn immer gemocht, auch wenn wir uns nicht besonders nahegestanden hatten. Vor allem mochte ich sein bleiches Struwwelpeterhaar und das seltsam schiefe Lächeln, das er aufsetzte, wenn Lehrer eine Frage stellten, die er nicht beantworten konnte. Er hing ständig mit seinem Bruder Harald zusammen, fast als wären sie Zwillinge. Die Leute behaupteten, sie seien unzertrennlich, sogar ununterscheidbar, dabei war Harald ein Jahr jünger, und es fiel in Wahrheit niemandem schwer, sie auseinanderzuhalten. Ihre zwillingsartige Ähnlichkeit war eine Illusion; eine Illusion, die sie bewusst förderten, weil sie einander gleich sein wollten. Aus Gründen, die nur sie allein kannten, mussten sie identisch sein. Und natürlich waren sie auch zusammen, als ich sie zum letzten Mal sah, damals, am Grunnlovsdag. Sie sahen sich den Umzug auf der Sjøgata an und standen auf der anderen Straßenseite mitten in einem Meer norwegischer Flaggen – zwei weißhaarige Jungen, deren Augen dem Umzug auf exakt die gleiche Weise folgten, deren Hälse sich im gleichen Rhythmus reckten und deren Köpfe sich im gleichen Rhythmus drehten, wodurch sie seltsam mechanisch wirkten, beinahe wie Automatenmenschen auf einem altmodischen Jahrmarkt. Sie fielen immer auf, und selbst in der Menge schienen sie stets allein in ihrer eigenen Welt zu sein, einer Welt, zu der sonst niemand Zutritt hatte. Nur waren sie an diesem Tag nicht allein und eigentlich auch nicht mehr zusammen, denn wo einst zwei gewesen waren, da waren nun drei: Mats, Harald und jene andere, Maia. Natürlich wusste ich, wer sie war; sie ging seit einiger Zeit in Haralds Klasse, kam aber eigentlich nur zur Schule, wenn ihr der Sinn danach stand, bis sie schließlich gar nicht mehr auftauchte, und ich konnte auf Anhieb erkennen, dass sie, so unwahrscheinlich dies auch klang, mit ihnen zusammen war. Das überraschte mich, selbst wenn es offensichtlich kein Zufall war, dass sie ebendort standen, drei, wo nur zwei sein sollten, drei, die in all dem Rot, Blau und Weiß untergingen und wieder auftauchten,
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