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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt
Autoren: Ana Veloso
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Beja/Alentejo
Silvester
1899
    J ujú zitterte.
    Sie kauerte mit angewinkelten Knien an der Mauer des alten Kastells, die Arme um die Beine geschlungen. Vergeblich versuchte sie sich einzureden, dass sie schon ganz andere Gefahren gemeistert hatte. In dem Gestrüpp am Fuße der Mauer raschelte und knisterte es. Wenn das nur keine Ratten waren! Die Mondsichel, die hin und wieder zwischen den Wolken hervorblitzte, tauchte die unheimliche Szenerie in ein trübes Licht. Außerdem juckte sie die wollene
manta
, die Fernando ihr als »Verkleidung« umgehängt hatte. Doch weder wagte Jujú es, sich zu kratzen, noch das unsichtbare Getier zu verscheuchen. Sie verharrte reglos und traute sich kaum zu atmen. Denn am meisten fürchtete Jujú sich davor, erwischt zu werden. Allein beim Gedanken daran, welche Strafe ihr in diesem Fall drohte, schüttelte es sie durch und durch. Unter Aufbringung all ihrer Willenskraft gelang es ihr immerhin, zu verhindern, dass ihre Zähne klapperten.
    »Hast du etwa Angst?«, flüsterte Fernando. Es klang herablassend, ganz so, als sei es für ihn – dank der Überlegenheit seines Geschlechts und seines reifen Alters von beinahe zehn Jahren – völlig selbstverständlich, sich mitten in der Nacht vor schaurigen Festungsanlagen herumzudrücken.
    »Angst? Pah! Mir ist kalt.« Jujú wunderte sich selber, wie beherrscht ihre Antwort klang. Natürlich fürchtete sie sich, und wie! Aber den Teufel würde sie tun, Fernando gegenüber auch nur eine Silbe darüber zu verlieren. Nie wieder würde er sie mitnehmen, und um nichts in der Welt würde Jujú auf die Abenteuer verzichten, die sie nur in Fernandos Begleitung erlebte. Ihre einzige gleichaltrige Freundin, Luiza, hielt nichts davon, Baumhäuser in den Wipfeln von Korkeichen zu errichten oder im kniehohen Weizen Verstecken zu spielen. Und auch Jujús ältere Schwestern – Mariana, Isabel, Beatriz und Joana – waren kaum dazu zu bewegen, etwa das Flüsschen über glitschige und wacklige Steine hinweg zu durchqueren. Sie hielten sich für vornehme Damen. Nur sie selber, die jüngste der Carvalho-Töchter, schien aus der Art geschlagen, eine Tatsache, die Jujú in diesem Augenblick bedauerte: Wäre sie doch bloß zu Hause geblieben, in der Sicherheit ihres weichen Bettes, in den Schlaf gelullt von den regelmäßigen Atemzügen Marianas, mit der sie ein Zimmer teilte.
    »Wann können wir endlich wieder hier weg?«, fragte sie leise.
    Fernando lag eine beleidigende Antwort auf den Lippen, doch er schluckte sie herunter. Warum sollte er Jujú seine Verachtung darüber spüren lassen, dass sie jünger als er und noch dazu ein Mädchen war? In Wahrheit hatte auch er Angst, und er war froh, dass er nicht ganz allein in diesem Versteck hocken musste. Dank seiner Freundin konnte er sich stark fühlen.
    »Sobald die Luft rein ist. Ich sehe gleich mal nach.«
    »Glaubst du, dass die Dona Ivone uns gesehen hat?«
    »Ich glaube nicht. Und wenn, dann hat sie dich ganz bestimmt nicht erkannt. Mit diesem Umhang siehst du aus wie ein Bauernmädchen – und sie kennt dich ja nur in Spitzenkleidern.«
    Dona Ivone war die Gouvernante auf der »Quinta do Belo Horizonte«, dem Gut von Jujús Eltern. Als die beiden Kinder beschlossen hatten, in der Nacht auszubüxen, hatten sie nicht bedacht, dass sich Bekannte ihrer Familien ebenfalls in Beja aufhalten könnten.
    Wie dumm von mir!, schalt sich Fernando. Es war die Silvesternacht, da lag es doch auf der Hand, dass auch andere Leute sich das Feuerwerk ansehen wollten, das in der Kreisstadt stattfinden sollte. Für zusätzliche Schaulustige sorgte ein kleines Zigeunerlager vor den Stadttoren, in dem allerlei Lustbarkeiten geboten wurden. Es gab eine Wahrsagerin, einen Gewichtheber und sogar einen dressierten Affen. Am meisten war immer vor dem Zelt von »Mademoiselle Angélique« los. Manchmal standen die Männer dort Schlange, und Fernando hatte nur eine sehr vage Ahnung von dem, was im Innern des Zeltes passieren mochte. Er hatte es bisher nicht geschafft, dort hineinzuschauen. Fernandos Hauptaugenmerk jedoch galt ohnehin einer anderen Attraktion: einem Apparat, der durch einen Mechanismus, den Fernando unbedingt noch genauer erkunden musste, einen simplen, kupfernen
tostão
in eine schmucke Münze mit Prägestempel verwandelte.
    »Komm. Ich glaube, wir können es jetzt wagen.« Er nahm Jujú bei der Hand und zog sie hoch.
    Sie lugten um die Ecke, schreckten jedoch gleich wieder zurück. Eine Gruppe lautstark
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