Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr
Autoren: Christina-Maria Bammel
Vom Netzwerk:
werden … Wer fragt da nach unseren verlorenen Kindertagen?«
    Ich kann ihr keine Antwort geben.
    »Jetzt machen Sie was aus meinem Ärger!« – Das sagt nicht nur ihr Blick, sondern ihre gesamte Körpersilhouette am Panoramafenster. Und der Berliner Himmel im Hintergrund strahlt dazu frühlingshaft.

    Derselbe Frühlingshimmel übrigens, der auch über den gerade nicht gepuppt und getragenen Kindern in diesem Stadtgebiet steht. Er wölbt sich ebenso über den Kindern, die immer wieder am späten Nachmittag vom Schulhort nicht abgeholt werden, weil die Eltern nicht rechtzeitig aus dem Alkoholrausch aufwachen. Er wölbt sich über den Kindern, die mit drei, vier und fünf Jahren nach dem Einschlafen alleinbleiben, weil die Single-Mutter doch was vom Leben haben will – und noch mal loszieht. All das in den Wohnblocks wenige Meter von hier entfernt, aber nicht in Sichtweite des Panoramafensters.
    Der weite Blick bietet doch nur einen Ausschnitt und |144| vergrößert die eigene Geschichte zum Vollbild. Ich lasse sie in dieser Geschichte und begegne ihr erst wieder, als der Himmel eisig, verhangen und dezembergrau ist: Weihnachten – ein Jahr später.
    Nicht der Jesusknabe, sondern der erwachsene Jesus wird in dieser Nacht ins Licht gerückt. »Ihr kennt mich und wisst, woher ich bin«, heißt es in dem Evangelium, das nichts von einer Geburtsstadt Bethlehem, von Hirten auf dem Felde und von der Anbetung eines Wickelkindes durch Magier weiß: das Johannesevangelium. Es erzählt vom erwachsenen Menschensohn und hat somit mehr als ein Wort mitzureden angesichts der vielfältigen Versuche, zu verkindlichen, was nicht verkindlicht werden sollte.
    Ihr kennt mich und wisst, dass ins Leere läuft, was niedlich-kindlich bleiben soll; es ertrinkt in Harmlosigkeit. So ähnlich lässt sich das Jesuswort in jener Nacht hören. Die Frau vom Panoramafenster begegnet mir am Ausgang. Sie hat zwei alte Damen untergehakt, eine rechts und eine links. Beide konnte sie mit Kraft und Aufwand aus der Seniorenresidenz zur Kirche bringen – geduldig und sehr langsam. »Genau wissen die Frauen vielleicht nicht mehr, wo sie sind. Aber sie haben etwas gespürt von der Stimmung dieser Nacht, denke ich.«
    Wer weiß? Fast ist auf den Gesichtern der alten Frauen etwas unbeschwert Kindliches zu erkennen. »So etwas wie eine zweite Kindheit«, sagt die Begleiterin, das Flüchtlingskind von damals. Und ich sehe sie zum ersten Mal etwas lächeln. Der einen bindet sie das Tuch noch etwas fester um die Schultern, der anderen Frau zieht sie die Handschuhe fester hoch. Gepuppt und gewiegt sehen sie aus – alle drei.
    Erst im Frühling treffe ich das Flüchtlingskind von damals wieder, erzähle von dem Bild der drei Frauen, das ich immer noch vor Augen habe.
    »Haben Sie denn meine Mutter nicht erkannt? Ab und an hole ich sie noch aus der Seniorenresidenz – zum Gottesdienstbesuch. – Vergangenen Sommer sind wir sogar noch einmal zusammen verreist. Meine Tochter, mein |145| Mann, ich – und meine Mutter. Meine Tochter studiert Russische Geschichte und Literatur. Ausgerechnet! Sie belegt einen Sprachkurs nach dem anderen und hat schon zwei Sommer in Petersburg gelebt. Königsberg wollte sie unbedingt mit ihren Eltern zusammen ansehen. Ich habe sie immer wieder vertröstet, aber irgendwann gemerkt: Sie meint es ernst, und uns läuft die Zeit davon.
    Wir haben tatsächlich das Haus von damals ausfindig gemacht. Eigentlich wollten weder ich noch meine Mutter es sehen. Amalienau. Ich konnte mich an die Schönheit dieses Namens gar nicht mehr erinnern. Meine Tochter hat nicht lockergelassen. Also haben wir uns einen Zettel in die Tasche gesteckt, um die wichtigsten Sätze nicht zu vergessen. Auf dem Zettel stand: ›Wir kommen aus Deutschland. Wir haben früher mal dieses Haus bewohnt und den Hof bewirtschaftet. Wir haben heute keine Ansprüche auf das Haus.‹
    Ich hatte Angst davor, zu überwältigt zu sein. Was, wenn mir der Text fehlen würde – mir und uns allen? Dann das Problem der Sprache. Nachdem wir geklingelt und unseren Zettel gezeigt hatten, habe ich mit allem gerechnet, aber nicht damit: Wir wurden zum Kaffee eingeladen.
    Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, dass ich als Fünfjährige in einem Haus gewohnt habe, das heute nackte Wände zeigt, die auch noch feucht-schimmlig sind. Nur noch das untere Geschoss ist bewohnt. Eine wahrscheinlich letzte Mieterin hält es dort aus, so alt wie meine Mutter. Zwei Stunden später sind wir dann
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher