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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr
Autoren: Christina-Maria Bammel
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organisierten Festlichkeit kein religiöses Gefühl birgt. Wo es doch der Fall ist, geschieht es mitunter auf verborgene Weise. Auch wenn es an Weihnachten eigentlich darum geht, wie Gott seine Beziehung zu den Menschen neu bestimmt, dreht sich die Weihnachtserfahrung der allermeisten eher um die Frage, ob und wie Familien oder Freunde wieder zusammenkommen können. Insofern ist Weihnachten ein Fest, das an der Beziehungsfront, ja, gefeiert – oder eben oft eher ausgefochten wird.
    Es stimmt, nicht zu selten macht Weihnachten die Beziehungen untereinander noch komplizierter. So die oft gehörte |10| Erfahrung und das vielstimmig und zahlreich beklagte Weihnachtsresümee.

    Als Pfarrerin stellt sich mir natürlich die Frage, ob es eine Brücke gibt zwischen diesem alle Jahre wieder enttäuschten Resümee von der Beziehungsfront hin zur Weihnachtsursprungsgeschichte, wie sie genauso zuverlässig alle Jahre wieder in den Kirchen erzählt wird: Gott wurde Kind. Gibt es einen Weg von uns zu dem Ereignis in Bethlehem, das in der Bibel als gewesen erzählt wird? Oder andersherum: Gibt es Wege, die von diesem Ereignis zu uns führen?

    Immer wieder faszinierend ist die Rollenbesetzung der Weihnachtsgeschichte: Joseph, Maria, das Kind, die Hirten, die Engel, die Könige (oder Magier) aus dem Morgenland – die man nur im Matthäusevangelium findet – und selbst die Menschen, die gar nicht weiter beschrieben werden, von denen man nur erfährt, dass sie sich wundern über das, was die Hirten ihnen erzählen.

    Vater, Mutter, Kind, um die sich alles dreht, stecken in einer Patchwork-Familie. Später wird sie »heilig« genannt werden. Dabei erzählt Lukas von einer minderjährigen Schwangeren, einem Kuckuckskind und seinem sozialen Vater, von verwirrenden politischen Verhältnissen und der Erfahrung der Ohnmacht einer Mittelstandsfamilie im Getriebe der Welt. Das ist eine Herausforderung für manchen, gewöhnt an die bürgerliche Ordentlichkeit.
    Noch interessanter ist, wenn man sich klar macht, dass die biblischen Autoren nach Bildern für die Beziehung zwischen Gott und Mensch suchten, die sie offenbar fanden in den Beziehungen zwischen Menschen – und zwar weniger in den so genannten intakten Beziehungen als in denen, die etwas von der Gefährdung des Lebens erzählen.

    Vielleicht ist das die Brücke vom alten Text in unsere Zeit. Was geschieht, wenn wir in der Weihnachtsgeschichte die |11| Beziehungsgeschichten hören – die alten und die neuen? Können sich die betagten Worte, und jene alten Beziehungen in ihnen, neu in ein gewöhnliches Leben einlesen? Darum geht es in diesem Buch. Es ist ein Versuch, den alten Text aus der Kirche heraus und in die Stadt hinein zu holen. Es ist der Versuch, Spuren des Poetischen in den Realitäten des Lebens so zu entdecken wie auch Spuren des Realen in der Poesie einfacher Worte – seien sie alt und damalig oder jung und heutig.

    Darum schreiben die hier festgehaltenen Stadt- und Großstadtepisoden auf ihre mal traurige, mal unfreiwillig komische Art die Weihnachtsgeschichte weiter. Es sind wahre Geschichten, die sich im Pfarramtsalltag einstellen und so – oder so ähnlich – geschehen können.
    Natürlich haben diese Begegnungen nachwirkend in meinem Herzen eine andere Gestalt gewonnen. Wer weiß schon, ob es »genau so« gewesen ist. Tatsachenberichte sind etwas anderes als die – wahren – Erzählungen dieser Menschen. »Wahr« – das ist mehr und anderes als die wirkliche Tatsache. Manchmal muss die Wirklichkeit der jeweiligen Tatsache neu erzählt werden, damit ihre Wahrheit erkennbar wird, das also, worauf man sich verlassen kann.

    Warum habe ich ausgerechnet diese Geschichten gewählt, um das Weihnachtswunder zu begreifen? Geschichten vom Verlieren und Finden, von Trauer und Tod, aber auch von zaghafter Hoffnung, von vorsichtigen Neuanfängen, jenseits der Kitsch- und Sentimentalitätsgrenzen?

    Es sind die Geschichten derer, die in die Gottesdienste kommen. Gerade zu Weihnachten. Mancher buckelt seine Geschichte, der andere trägt sie wie ein Schatzkästlein in der Manteltasche. All diese Menschen kommen mit großen Erwartungen, dass sie nämlich die Weihnachtsgeschichte hören, als ob sie gerade in ihrem eigenem Leben geschehen, also wirklich geworden sei. Das ist das eine.

    |12| Das andere ist klar: Jedes Menschenleben birgt Weihnachtsgeschichten – und zwar gerade in den Momenten, in denen das Leben am zerbrechlichsten erscheint. Dies gilt auch in umgekehrter
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