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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr
Autoren: Christina-Maria Bammel
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hatten die alten Großeltern die volle Verantwortung für das kleine Mädchen, und später hatte die nun erwachsene Frau die Verantwortung für ihre gebrechlichen, letzten Familienangehörigen. Bis auch die sterben.
    Ja, in gewisser Weise kann sie sich kaum noch an andere Orte erinnern als an dieses Dorf, diese Hütte, das Haus ihrer Familie. Dann wischt sie sich noch mal über die Augen, faltet das Papier wieder zusammen und bettet es liebevoll zurück in die Schublade. Eine Schublade für die Liebe der Mutter, die in irgendeinem Massengrab liegen wird.
    Der Abschied der deutschen Besucher ist still. Die Söhne gehen mit ihrem Vater die schmutzige und gefrorene Straße durch das Dorf zurück, halten kurz am Eingang des Soldatenfriedhofs. Eine solche Reise wird es sicherlich kein zweites Mal geben. Er möchte noch einmal allein zur Grabstelle, sagt der Vater. Nach wenigen Momenten ist er zurück. Der alte Joseph aus Holz soll wieder zurück nach Deutschland kommen. Er hat es sich überlegt. Oder nein, besser noch: Er spurtet die Straße zurück, oder das, was sich Straße – »uliza« – nennt, klopft an die Fensterläden der schiefen Hütte und – »s roschdestwom – frohe Weihnachten« – drückt ihr die Holzfigur rasch in die Hand, wagt es nicht, sie zu umarmen, und läuft dann zurück zu seinen Söhnen, die im Dunkeln warten.
    |21| Du bist ihm ähnlicher, als du denkst
    Da erschien ihm der Engel des Herrn
    im Traum und sprach:
    Josef, du Sohn Davids,
    fürchte dich nicht,
    Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen,
    denn was sie empfangen hat,
    das ist vom Heiligen Geist.
    Matthäus 1,19.20

    Vor zwei Jahren hatte Vater seine Tanne am 23. noch selbst von allen Seiten geprüft und schließlich besprochen: »Du bist aber besonders gut gelungen.« Dann folgte ein schweißtreibender Akt: Das grüne Ding, nicht selten eingefroren auf dem Balkon, musste so gefügig gemacht werden, dass es irgendwann wie von selbst im Ständer stand. Nachdem der arme Baum endlich von der Vorrichtungszange fest im Griff gehalten wurde, mein Vater ein paar Schrammen hinzubekommen und ein paar Flüche losgeworden war, kam das eigentliche Ritual: Wasser von allen Seiten. Der Baum wurde besprüht. Unter feuerwehrtechnischen Gesichtspunkten und angesichts der trockenen Heizungsluft im Wohnzimmer meiner Eltern völliger Blödsinn. Es ist die typische Heizungsluft aller Neubauten, wie sie heute noch von Rostock bis Dresden zu finden sind. In dieser Heizungsluft bin ich groß geworden. Das Wasser, das mein Vater am 23. sprühte, war am Abend desselben Tages schon nicht mehr nachweisbar. Aber was interessierten meinen Vater öde Fakten? Wie eine kleine Weihehandlung vollzog er also, was er für nötig hielt, mitten im Wohnzimmer. Das wurde damit zur Kapelle. Und mein Vater mittendrin als das priesterliche Familienhaupt, der mit Ritualen und Religiosität so viel zu tun hatte wie der Osterhase mit Silvester.

    |22| Das priesterliche Familienhaupt ist tot. Ich bin 40 Jahre alt und schon das zweite Mal selbst für die Weihnachtsstimmung im elterlichen Wohnzimmer zuständig. Ich stelle belustigt fest, wie ähnlich ich meinem Vater bin im Kampf mit der Tanne. Selbst meine Mutter, versunken in Monaten der Traurigkeit, amüsiert es ein bisschen, wie ich mich anstelle mit Baum und Zange. »Du bist ihm ähnlicher, als du denkst«, lacht sie. Ich lache mit. Die Zeiten, in denen ich nicht gelacht hätte, sind lange vorbei.
    Ich kann meinem Vater nämlich gar nicht ähnlich sein. Genetisch geht das nicht: Ich bin ein Kuckuckskind. Klar ist mir das erst seit meinem 18. Geburtstag. Meine Eltern hatten alles getan, um dieses Geheimnis für sich zu behalten. Mein Geburtstag fällt in eine besondere Zeit im Jahr – meist zwischen den ersten und zweiten Advent. Hin und wieder hatte Vater im Scherz gesagt: Dich hat der Nikolaus gebracht. Ich hatte dazu gegrinst – aber an meinem 18. Geburtstag bekam der Scherz eine Bedeutung, die mir den Boden unter den Füßen wegzog. Er wurde – so empfand ich es damals – die Maske eines Verrats.
    Ich war am Morgen des Geburtstags noch im Schlafanzug an den Briefkasten unten im Hausflur gelaufen. Ich hoffte auf Post von meiner Freundin, die den Eltern möglichst nicht in die Hände fallen sollte. Postpubertäre Geheimniskrämerei. Im Briefkasten war nichts, was von ihr sein könnte, stattdessen ein recht offiziell aussehendes Schreiben. Als 1 8-Jähriger gehörte es zu meiner neuen Würde – das wusste ich –, offizielle
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