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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr
Autoren: Christina-Maria Bammel
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Generationen später gegenwärtig. Nur zu klar war es, dass der Kriegsgräberfürsorge bis in die 90er Jahre hinein keine Erlaubnis erteilt wurde, nach den gefallenen Soldaten zu suchen und jeden Einzelnen zu bestatten.
    Umso größer der Schock, als der Junge, der nun schon lange dreifacher Vater, ja sogar Großvater ist, einen Brief erhält. Wenige Tage vor dem Weihnachtsfest 2004. Sein Vater, der Soldat von damals, sei identifiziert worden. Der Brief berichtet, dass es eine Umbettung und schließlich eine Bestattung auf dem Soldatenfriedhof Berjosa gegeben hatte. Mehrere Tage liegt dieser Brief neben dem Bilderrahmen. Das Kerzenlicht der Weihnachtstage fällt auf das amtliche Papier, jener Nachricht aus einer anderen Welt. Die so früh verwitwete Mutter hätte sich darüber auf ihre traurige Weise gefreut, denkt er. Aber dort, wo sie jetzt ist, braucht sie keine amtliche Nachricht mehr von dem einzigen Mann in ihrem Leben.
    Dann steht die Reiseplanung: Der Junge von damals möchte zu seinem toten Vater. Aufschieben will er das in seinem Alter nicht mehr. Er wird mit seinen Söhnen nach Weißrussland reisen – zum Vater. Sofort. Eine Reise von einigen Tagen, für den vaterlosen Jungen von damals eine Erinnerungsreise, ohne dass er auch nur eine einzige Erinnerung an seinen Vater hätte.
    Nach einer Bahnfahrt durch weite Landschaften und graue Dörfer, versunken im Matsch von Weißrussland, erreichen sie schließlich das Ziel. Die Plakette auf der Begräbnisstelle trägt den Namen des Vaters, ein Geburtsdatum, kein genaues Sterbedatum. Sie stehen zu dritt am Grab. Drei Generationen sind verbunden. Die Lebenden sprechen ein Gebet und legen ein kleines Holzkreuz ab. In der Manteltasche steckt eine vorbereitete Rede, nur ein paar Worte. Aber der verwaiste Sohn wird die Worte nicht sagen, nicht heute. In der anderen Manteltasche steckt ein Päckchen: Es ist der alte geschnitzte Joseph vom Küchenbuffet aus Kindertagen. Der Junge von damals, der das Jesuskind |19| so brennend um seinen Vater beneidet hatte, stellt ihn behutsam unter den auf der Plakette eingravierten Namen seines unbekannten Vaters.
    Trauer? Ja. Auch.
    Aber diese Trauer hat sich über die Jahre gewandelt. Hier an dieser Stelle, mitten auf dem winterlichen Soldatenfriedhof unter klirrendem klaren Sternenhimmel, bricht ein Moment von Dankbarkeit darüber auf, dass der Weg auf diesem Soldatenfriedhof für keinen zu Ende ist. Wir sind verbunden, sagt der Vaterlose später; wir sind miteinander verbunden – nicht durch die Kraft unserer Gedanken oder unserer Gefühle. Gott verbindet, was wir nicht verbinden und zusammenhalten können. Als es über dem Soldatenfriedhof zu dunkel wird, kehren sie um, laufen auf der unbeleuchteten Straße. Es ist schwer, sich zurechtzufinden.
    Eine ältere Frau, unverkennbar ihr Rückenleiden, steht an ihrer Holzhütte und winkt die Fremden heran. Es ist noch Weihnachten hier. Sie kocht für die deutschen Besucher einen Tee. Das dauert! Eigentlich wollen die Söhne so rasch wie möglich zurück in die Stadt, zurück auf die Bahn, zurück und nach Hause in ihr eigenes Leben. Aber sie bleiben im Muff dieser Hütte, obwohl es draußen immer dunkler wird. Mit wenigen Russischbrocken verständigt man sich. Deutsch? Ja. Und ja, sie hat immer wieder dabei zugeschaut, wie dieser riesige Friedhof gebaut wurde. Und ja, es kommen immer wieder Besucher hierher in das Dorf, in dem der Alltag so still ist. Ob sie schon immer hier lebt? Sie scheint die Frage verstanden zu haben. Die Frau hebt sich mühevoll aus der leichten Verkrümmung und macht ein paar Schritte zu auf eines der wenigen Möbelstücke in der Stube. Aus einer Schublade zieht sie ein fast zerfallenes Stück Papier. Ein Brief – wohl von ihrer Mutter, datiert auf einen Frühsommertag 1941.
    Die Mutter hatte damals als Krankenschwester in einem der Krankenhäuser von Minsk gearbeitet, während die kleine Tochter im Dorf bei den Großeltern bleiben sollte. |20| Wenn die Mutter wiederkommt, bringt sie aus der Stadt etwas Schönes mit. Bestimmt. Die deutsche Besetzung der Stadt Minsk dauerte nur wenige Tage. Ob ihre Mutter eine der Ersten war, die umgebracht wurden, ob sie noch Tage im Krankenhaus arbeitete und die zahllosen Opfer sehen musste – keiner wird es je wissen. Sie kam nicht zurück.
    »Mein liebes Töchterlein«, so beginnt der Brief. So wie das greis gewordene »Töchterlein« diese Zeilen anschaut, wird es der einzig erhaltene Brief der Mutter sein. Nach deren Tod
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