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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr
Autoren: Christina-Maria Bammel
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Post für die Familie lesen zu dürfen. Mit dieser Klarheit riss ich den Umschlag auf und verstand kaum etwas von den ersten Zeilen. Irgendetwas von auslaufendem Unterhalt für mich. Mich! Was hatte mein Name in diesem Brief zu suchen? Wer zahlte meinen Unterhalt? Warum lief etwas aus, von dem ich bis dahin gar nichts wusste?
    Die drei Fragen legte ich zusammen mit dem Brief auf den Geburtstagstisch. Die Kerzen brannten. Meine Mutter hatte Blumen dazugestellt. Mehr für sich als für mich. Sie |23| wusste, dass ich mir nicht so wahnsinnig viel aus Blumen mache. Die Brötchen waren aufgeschnitten, der Tee heiß, aber alles blieb in diesem einen Moment hängen; dem Moment, der auf die Frage folgte: »Wer zahlt hier für mich Unterhalt?« Mutter setzte sich. Sie versuchte, den Moment vorüberziehen zu lassen. Wie oft hatte sie sich womöglich diesen Augenblick vorgestellt, gefürchtet, verdrängt und zur Seite geschoben. Sie war wie vereist.
    Vater war zupackender, beherzter. Er sah mich nicht an, schien die Kerzen auf dem Tisch zu zählen und tauchte in seine Erinnerung ab. 18 und ein halbes Jahr zurück.
    Die junge schwangere Frau auf dem Sommerfest des Betriebes hatte ihm gefallen. Sie hatten ein bisschen getanzt und ein bisschen geredet. Hübsch hätte sie ausgesehen – fast strahlend, meinte der ansonsten staubtrockene Vater im Nachhinein.
    Dann hatte auch meine Mutter die Sprache wiedergefunden. Sie konnte sich an nichts dergleichen erinnern. Mit Anfang 20 war die Schwangerschaft für sie nicht das Schlimmste. Das galt zu der Zeit als üblich. Am schlimmsten war, dass sie allein damit dastand. Die 60er Jahre waren noch nicht zu Ende. Dass der gesellschaftliche Hürdenlauf inmitten der sozialistischen Spießigkeit erst noch beginnen würde, war ihr im dritten Monat klar. Von strahlender schwangerschaftlicher Schönheit also keine Spur. Und dann kam dieser wenig ältere Kollege, drei Köpfe größer. Damals sagte man noch »stattlich«.
    Vielleicht war es sein einziger heldenhafter Moment im Leben, vielleicht ist er nie wieder so über sich hinausgewachsen. Jedenfalls heiratete er die junge schwangere Kollegin. Kinder wollte er ohnehin haben. Dann wäre eben dieses eine Kind wie sein eigenes.
    Nach der Geburt zogen sie in eine gemeinsame Wohnung im neuen Stadtteil, die Mutter blieb erst mal zu Hause. Und irgendwann hörten die Fragen auch der besonders aufmerksamen »Freunde« auf. Eine offizielle Adoption schien damals nicht so nötig und hätte vielleicht viel mehr |24| Unruhe gebracht, als die Sache einfach so auf sich beruhen zu lassen. So dachten meine Eltern. Und so ruhte die Sache also für 18 Jahre.
    Ob ihnen in dieser Zeit nie der Gedanke gekommen war, mir zu sagen, wer mein leiblicher Vater ist?
    »Warum? Was hätte das geändert?« – meine Mutter wurde heftig. Die Erziehung wäre ohnehin schwer genug gewesen. »Die vergangenen Jahre – all die Auseinandersetzungen zwischen dir und Vater. Das weißt du doch auch noch!«

    Plötzlich war ich das Ei im falschen Nest. Ein mittlerweile volljähriges, aber falsch platziertes Kuckucksei.
    Wer ist der Mann auf der anderen Tischseite – mein Ernährer, mein Erzieher, der Vater meines Bruders, tatsächlich noch mein Papa? Mich hatte nie interessiert, dass wir uns so gar nicht ähnlich sehen. Ich war viel zu sehr mit unseren Kämpfen beschäftigt.
    Diese ewigen Kleinkriege, Streitgefechte über Ansichten. Seine Stimme, die laut, viel zu laut für Neubauwände werden konnte:
    »Nein! Wann du zu Hause zu sein hast, bestimme immer noch ich!«
    Oder als ich mich bei der Nationalen Volksarmee verpflichten wollte, um doch noch studieren zu können:
    »Du unterschreibst nicht diesen Mist von einer Selbstverpflichtung für die NVA. Bist wohl verrückt geworden.«
    »Nein! Dann studierst du halt nicht und machst erst einmal eine anständige Lehre.«
    Unser Vater-Sohn-Frontenverlauf.
    Am Ende meiner Teenagerzeit hatten wir so etwas wie einen Burgfrieden. Würden wir uns jemals etwas zu sagen haben über stillgehaltene Waffen hinaus – etwas, das weiter reichte als der stickige Familienalltag zu viert? Gehörte ich überhaupt noch zu dieser Familie, noch genauso wie mein Bruder, der genau genommen mein Halbbruder war? Sollte ich nicht noch viel empörter über diese Geheimnistuerei meiner Eltern sein? Eltern?
    |25| Auch dieser Nikolaustag, mein 18. Geburtstag, ist vorbeigegangen. Wir haben nicht wieder darüber geredet. Für meinen Erzeuger konnte und kann ich mich beim
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