Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr
Autoren: Christina-Maria Bammel
Vom Netzwerk:
nach gewonnener Drachenschlacht auf den Armen ihrer Mutter und zieht mit der rechten Hand ein wenig an ihren Strippen auf dem Kopf. Katrin wird natürlich hineingenötigt und sieht sich in der kahlen Wohnung |30| um. Ein paar Kisten an der Wand nach oben gestapelt, offenkundig schon stark beanspruchte Möbelteile, die noch auf Zusammensetzung warten, verbreiten nicht gerade die behagliche Stimmung eines vierten Advents.
    Milena scheint das nicht zu stören. Sie möchte jetzt auf dem Boden langrutschen und die Besucherin aus der Nähe betrachten. Die Mutter versteht das ohne Worte. Damit Milena etwas erkennen kann, muss sie nah an Katrin heranrobben. »Milena kennt noch keine Scheu und freut sich immer, wenn sie ein neues Gesicht entdeckt.« Jetzt entdecken sie sich gegenseitig. Katrin fühlt sich etwas zu unbeholfen und erlaubt sich noch nicht, Milena zu berühren. Es ist, als könnte an dem Kind etwas kaputtgehen, so zart und verkabelt ist es. Milena möchte der fremden Frau alles in ihrem Kinderzimmer zeigen: die verschiedenen Felle, von Schafen, sogar von einem Fuchs, an den Wänden; »Milena lernt durchs Fühlen.« Eigentlich muss die Mutter das nicht erklären. Dann die großen Blumen über dem Bett, das Fensterbild mit dem Schneemann, ein Zoo von Kuscheltieren, die darunter sitzen. Milenas Favorit unter den Zootieren ist ein Kamel mit drei ungleichen Beinen, das Vierte ist gänzlich verknickt.
    Am Abend steht Katrin wieder allein vor ihrem lächerlichen Bäumchen.
    Sie ist reicher um eine Geschichte und zwei neue Bekanntschaften. Auch wenn es noch keine drei Stunden her ist.
    Milenas Mutter hat sich ein Kind gewünscht, so sehr, dass ihr ohne festen Partner eine Insemination der Weg zum Glück wurde. In den einschlägigen Szene-Zeitschriften hatte sie den richtigen Kontakt gefunden, den richtigen Zeitpunkt erwischt und nach ein paar fehlgeschlagenen Versuchen endlich gejubelt: schwanger! Auf eine Bilderbuchschwangerschaft folgte eine katastrophale Geburt. Die Folgen sind sichtbar. Mindestens ebenso sichtbar ist der Stolz der Mutter über so viel Glück durch die Katastrophe hindurch.
    |31| Katrin sieht Milenas breites Lachen, setzt sich hin und schneidet vier gleich große Sterne aus. Auf den einen schreibt sie: »Gutschein für einmal Möbel zusammenbauen«, dann: »Gutschein für ein Abendessen in der zweiten Etage«, auf den dritten: »Gutschein für einen Spielplatznachmittag«, »Gutschein für einmal Kamelreiten an einem Samstagnachmittag«. Daneben malt sie ein kleines Kamel mit verknicktem Fuß und die Adresse des einzigen Kamelreithofs im ganzen Umland. Alle Gutscheine sind eingelöst, als der Drei-Königs-Tag, der 6. Januar, vorbei ist. Dann hat Katrin eine Einladung im Briefkasten, auf Buntpapier, schief und krumm gefaltet: eine Einladung zur Taufe von Milena.
    So lange ist sie in keiner Kirche gewesen. Und jetzt soll sie gleich Patin werden. Es rührt und irritiert sie gleichermaßen. Kann man Zuneigung per Amtsverpflichtung verschreiben?
    Am Taufstein stehend hört Katrin mit Milena und der Mutter diese alte Geschichte von der Taufe Jesu – wie ein Signal aus anderer Welt. Und doch kommt ihr daran etwas bekannt vor, wie ein Geruch, der plötzlich eine tief vergrabene Erinnerung wachruft, wie ein Gedanke, den man schon lange nicht mehr hatte und dann begrüßt wie einen alten Freund. »Du bist mein lieber Sohn.« Die Stimme aus den Wolken über dem Täufling Jesus gesprochen. Milena hört die Worte wahrscheinlich nicht, noch nicht. Dann ist Katrin an der Reihe und wird gefragt, ob sie dieses, ihr Patenkind, nun begleiten wird durch Glaube und Zweifel, Hohes und Tiefes … Dann möge sie mit »Ja« antworten. Katrin antwortet: »Ja … Du bist mein liebes Kind.« Alle Umstehenden haben das »Ja« gehört. Katrin, das Fehlerkind von einst, ist aber sicher, mit dem Herzen hat Milena auch den zweiten Teil gehört.
    |32| Telemann, oder: Dies ist der Tag … danach
    Singet dem Herrn ein neues Lied;
    Singet dem Herrn und
    lobet seinen Namen,
    verkündet von Tag zu Tag sein Heil.
    Psalm 96,1

    »Es ist meine Geschichte, nicht seine. Seine Geschichte würde anders klingen. Ich bin getrennt und befreit, er ist getrennt und allein. Ich kam mir jahrelang vor wie in geborgten Rollen und fremden Kleidern. Er hatte nur das, was wir gemeinsam als Leben in den Alltag packten. Ich höre ihn endlich nicht mehr die Treppe hinaufächzen, wenn er schwankend zwischen Schwermut und Schwerfälligkeit die Wohnungstür
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher