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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr
Autoren: Christina-Maria Bammel
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ansteuert. Dieses Ächzen hat mich bis in den Schlaf hinein verfolgt. Das Ächzen war lauter, irgendwie betonter geworden, als er seine Arbeit verloren hatte. Was nach einer vorübergehenden Sache aussah, wurde zur zweijährigen Zwangspause.
    Damals begannen die »nassen Zeiten«. Ein oder zwei geöffnete Weinflaschen standen irgendwann nicht mehr nur abends auf der Küchenzeile. Irgendwann kroch mir der Geruch von Wein schon mittags in die Nase, wenn mein Mann im Raum war. Gar nicht so viel später – so scheint es mir heute – stellte ich fest, wie schwierig es geworden war, miteinander eine sinnvolle Unterhaltung zu führen. Aber da waren schon anderthalb Jahre zwischen den ersten auffälligen Weinflaschen und dem Dauergeruch in der Wohnung vergangen. Der Wein sollte gegen die Traurigkeiten anfließen, aber er schien den Trinker nur noch trauriger, stiller und ächzender zu machen. Als Vater blieb er der Dauerkomiker und feste Fels für seine Tochter. Als Partner verschwand er im Nebel des Selbstmitleids.«
    Die Erzählung der Frau erinnert an eine von Sören Kierkegaards Notizen. Diese Notiz hält ungefähr fest, dass ein liebender Mensch nach menschlichem Ermessen den Geliebten |33| zu sich hinaufziehen möchte. Nach göttlichem Ermessen möchte allerdings der Liebende herabsteigen zum Geliebten. Die menschliche Bewegung der Liebe hat eine andere Richtung als die göttliche. Wenn es so einfach wäre …
    Hier zumindest hat eine Frau versucht, in allen möglichen Bewegungsrichtungen der Liebe überhaupt eine Chance zu geben.

    »Jetzt hat er sich eine neue Wohnung gesucht, preiswert und klein in einem anderen Stadtbezirk. Eine Durchgangsstation für einen Mann Ende 40. Bestimmt nicht leicht. Aber dafür will ich jetzt nicht mehr verantwortlich sein. Nach zehn Jahren Ehe nicht mehr. Die nassen Zeiten sind vorbei. Wir freuen uns endlich auf einen trockenen Weihnachtsabend.
    Meine Tochter weint nur hin und wieder mal ein bisschen, immer dann, wenn ihr klar wird, dass wir morgen Abend nicht zu dritt sein können. Tränen, die sich trocknen lassen. Ich habe meinen Partner auf Augenhöhe verloren – irgendwo unterwegs in den vergangenen zehn Jahren; meine Tochter hat ihren Vater verloren, glaubt sie zumindest in Momenten wie diesen. Gerade geht’s ihr gut:
    ›Kommt das Christkind?‹, fragt sie mich und grinst. Mit zwölf Jahren ist sie eindeutig zu alt für diese Frage. Aber es ist ein Ritual. Denn auf diese Frage gibt es in unserer Familie nur eine Antwort: ›Es kommt zu allen, die sich Mühe geben!‹
    Auch ich habe die Frage schon als Kind gestellt und die gleiche Antwort erhalten. Wenn ich mir Mühe gebe, kommt es auch zu mir. Nie habe ich verstanden, warum zum Christkind und zum Weihnachtsfest die Mühe gehört und nicht Lust oder Freude. Mit dem Erwachsenwerden blieb mir nichts anderes übrig, als die Antwort zu ironisieren, um nicht an ihr zu ersticken, an diesem permanenten Mühe geben. Der Heiland und der Gabenbringer waren in Kindertagen immer dieselbe Person, aber irgendwann war |34| Schluss damit. Und wenig später war es auch nicht mehr so wichtig. Ich hatte mich von konditionierten Weihnachtsgaben befreit – ›Für all die Geschenke muss man sich schon ein bisschen anstrengen, Isabel!‹ Das waren die Standardsätze zu Hause – und in meiner großen, neuen Welt war das Allermeiste heil – auch ohne Heiland, der Gaben bringt. Aber kann man das, was heil ist, von dem Unheilen tatsächlich unterscheiden, wenn man gerade drinsteckt?
    Wir haben uns gegenseitig stumm gemacht und blieben dabei, so weiterzumachen. Es ist wie ein Weiterfahren, ohne das Bremsen geübt zu haben. So wie die Schlittschuhläufer, die ich beim Training meiner Tochter immer wieder beobachten kann: Sie haben das irgendwie ansehnliche und möglichst schmerzfreie Bremsen einfach noch nicht gelernt und ziehen dann hilflos und lächerlich weiter übers Eis, bis sie vielleicht zu dicht an die Bande kommen. Wir haben wahrscheinlich auch so eine tragisch-lächerliche Figur abgegeben, aber wir hatten keine Beobachter hinter der Bande. Jetzt sind wir zusammen vom Eis gegangen.
    Seltsam. Noch vor acht Wochen haben wir überlegt, wie es weitergehen kann; eigentlich nicht wir, sondern jeder für sich. Vor sechs Wochen habe ich den Gedanken nicht mehr losgelassen, endlich allein leben und wohnen zu können – ohne ihn. Ich habe versucht, Wohnungen zu finden und Vermieter zu bestechen, damit es schneller geht. Ich habe in Gedanken
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