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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr
Autoren: Christina-Maria Bammel
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ums Geld. Sie muss eigentlich nicht sparen an der Schönheit eines Bäumchens zugunsten des Portemonnaies. Er sieht sie gerade noch in die nächste Straße einbiegen, mit energischem Schritt und einem Bäumchen unter dem Arm, das so gut wie kein Gewicht zu haben scheint.

    Katrin weiß Bescheid. Sie weiß, wie es sich anfühlt, seit dem ersten Atemzug von den Eltern mit einem skeptischen Fragezeichen angesehen zu werden. Sie hat diese Fragezeichen immer an den eigenen Eltern entdeckt und jedes Mal gedacht. »Ich bin der Grund dieser Skepsis, dieses Fragezeichens.« Selbst als ihr Vater schon längst einen Platz auf |28| dem Friedhof hat, sind diese Fragezeichen noch zu spüren. »Kein Wunder, dass ich nicht gerade und schön nach oben wachsen konnte …«, schimpft sie leise vor sich hin und sieht auf den kümmerlichen Weihnachtsbaum, der jetzt seine hohe Stunde erhalten soll.
    Ein infrage gestelltes Kind mit dem Gefühl eines Krüppelbäumchens. So ein Bäumchen hat ja schon fast etwas Lächerliches, schief und krumm, wie es da steht. Katrin ist auf der Suche nach der Schönheit des Verkrüppelten. Darum wird nun auch die derartig traurige Lächerlichkeit des Bäumchens nicht verhangen mit Bändchen und Kerzen, auch nicht mit extra aufgesteckten Zweigen nachgebessert. Sie wird so belassen, wie sie ist. Wenn Katrin ein Selbstporträt abliefern müsste, wahrscheinlich hätte es die Gestalt eines solchen Krüppelbäumchens zur Weihnachtszeit. Die quer und irgendwie unfertig gewachsene Tanne wird binnen Stunden zur guten Freundin. Auch Krüppelbäume erleben ihre Glanz- und Lichtzeiten.
    Katrin kann mit jeder Faser spüren, was es heißt, nicht wirklich vollständig zu sein – zumindest in den Augen der Eltern. Das Gefühl von Mangel war auch nach dem Auszug geblieben. Sie schien weiterhin ein graues alltägliches Unbesonderes zu bleiben.
    »Ein Sohn ist uns geboren« – von wegen! Noch 39 Jahre später packt sie der Ärger über ihre Eltern, die kalten Familientage, deren Leere und Geiz. Sie möchte nicht mehr länger eine Fehlermeldung im Familiensystem sein. Das weiß sie schon seit mindestens 30 Jahren. Aber das Wissen und das Fühlen spielen oft ein Spiel gegeneinander. Immer noch möchte etwas in ihr doch noch der kleine heiß ersehnte Sohn sein, auf den die Eltern damals alle Hoffnungen gepackt hatten. Hoffnungen, die sie – nur ein Mädchen – nie erfüllen konnte. Geschwister gab es keine. Ob das Fluch oder Segen ist, darüber ist sie sich nicht im Klaren. Die Liebe eines Krüppelbäumchenkindes hört niemals auf? Von wegen. Den Vaterfrost der Herzenshärte fühlt sie noch immer. Wird das einmal aufhören?
    |29| Kurz vor Weihnachten zieht unten im Haus eine junge Frau ein. Kaum jünger als sie. Katrin hat sie nur kurz im Treppenhaus gegrüßt. Wenn es im Büro wieder etwas entspannter zugeht, wird sie ihr Brot und Salz vorbeibringen. Das hat sie sich fest vorgenommen.
    Als sie es endlich am Sonntagabend schafft, unten zu klingeln, hört sie schon im Hausflur schrilles lautes Kinderlachen. Der Frequenz zufolge muss es das Lachen eines Kleinkindes sein. Die Tür geht auf. Die junge neue Bewohnerin hält ein Mädchen auf dem Arm, das hinter einer roten Kinderbrille mit dicken Gläsern breit grinst. Oben in den Haaren des Mädchens stecken elektrodenartige Gebilde. Am Kragen ihres Kleidchens ist ein Gerät angebracht, das ab und an ein blinkendes rotes Licht sendet. Wer weiß, wohin; wer weiß, wozu? Katrin hat so viel Lachen mit Elektroden auf dem Kopf noch nicht gesehen und strahlt einfach zurück.
    Brot und Salz werden von der neuen Mieterin fröhlich angenommen. Dann stellt sie sich und ihre Tochter Milena vor. Wie alt das Kind sei, will Katrin wissen. »Fast vier.« Dass ein fast vierjähriges Kind so kleine Füße und nahezu streichholzartig dünne Beinchen hat, erstaunt die Nachbarin doch. Sie hört die Mutter sagen: »Milena spricht noch nicht, weil sie ausgesprochen schlecht hört. Die Technik und das ganze Drumherum sollen da ein bisschen helfen. Außerdem funktioniert ihr Gleichgewichtssinn nicht. Aber seitdem wir hier in der Wohnung sind, hat sie wacker angefangen, sich selbst auf den Beinen zu halten! Sie glauben gar nicht, was das für ein Fortschritt ist! Wir haben doch hoffentlich nicht zu laut gejubelt …?«
    Die Mutter steht immer noch an derselben Stelle mit einem immer noch breiten Lächeln übers ganze Gesicht. Der Stolz guckt ihr aus jedem Augenwinkel. Milena thront wie eine Prinzessin
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