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Blutkirsche

Blutkirsche

Titel: Blutkirsche
Autoren: Gudrun Weitbrecht
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    Später, als es vorbei war, überlegte Mike, ob alles anders verlaufen wäre, wenn er nicht gerade an diesem Samstag zu seiner Parzelle gefahren wäre. Oder wenn er sich nicht seinen Wunsch erfüllt hätte, endlich Zeit in seinem Garten zu verbringen.
    Wie immer war er der Erste in der Schrebergartenanlage. Der Parkplatz vor der Vereinsgaststätte war geschlossen, das Festzelt nahm die ganze Fläche ein. Er stellte seinen Saab unter den großen Buchen am Straßenrand ab. Der Gewittersturm vom Vorabend hatte die Bäume durchgeschüttelt, abgebrochene Äste und Gestrüpp lagen auf Asphalt und Zeltdach. Die letzten Regentropfen glänzten in der Sonne auf Blättern und Sträuchern und ließen sie wie grüne Schuppen aussehen. Mike lugte ins Zelt. Der Duft von gebratenen Hähnchen, verschüttetem Bier und abgestandenem Zigarettenrauch hing noch in der Luft.
     
    Eigentlich hieß Mike Michel. In der amerikanischen Computerfirma, in der er bis vor einem Jahr gearbeitet hatte, riefen ihn alle Mike. Er hatte sich daran gewöhnt und diesen Namen beibehalten, obwohl er dort nicht mehr beschäftigt und freigestellt war. Er selbst machte sich nichts vor: Das hieß arbeitslos. Die Aussicht auf eine neue Stelle war mies – mit zweiundfünfzig war er einfach zu alt, um einen neuen Job zu finden.
     
    Als sein Freund ihn auf den Schrebergarten ansprach und meinte, das würde so gar nicht zu ihm passen, wirkte Mikes Erklärung wie einstudiert, und er lachte verlegen. „Irgendwie sind bei mir die Gene meiner bäuerlichen Vorfahren durchgebrochen.“
    Dabei log er noch nicht einmal. Als kleines Kind schickte ihn seine Mutter in den Ferien auf den Hof der Großeltern im Schwarzwald. Sie selbst kam nie mit, in ihrem Urlaub ging sie für fremde Leute putzen. Mike erinnerte sich an die schwieligen Hände und schmutzigen Fingernägel seines Großvaters, die nie sauber waren, auch wenn er beim Vespern saß und den Speck in dünne Streifen schnitt. Er sah seine schwarz gekleidete hagere Großmutter, die hinter den Hühnern herrannte, um sie zu fangen und auf dem Hackklotz zu köpfen. Manchmal lief sie auch |6| hinter ihm her und scheuchte ihn drohend mit der Mistgabel. Er war für sie nur ein weiteres Maul zum Füttern. Das Quieken der Schweine, ihre Todesangst, wenn sie zum Töten in den Hof getrieben wurden, hatte er noch immer in den Ohren. Die blutbefleckte Plastikschürze des Metzgers, der dem Großvater beim Zerlegen half – wie er das Tier aufhängte, das Gekröse in einen Eimer fiel, wie das Schweineblut aus der Schlagader in eine Emailleschüssel floss und der Großvater Speckwürfel in die noch dampfende Blutsuppe warf, sie umrührte, mit dem Schlachter brutal scherzte, nun würden sie ihm, Michel, auch die Eier abschneiden – all dies war in seinem Gedächtnis eingebrannt. Auch an die Schläge mit dem Ochsenriemen und an seine eigenen Schreie erinnerte sich Mike. Und daran, dass er hinterher in der Bibel lesen musste.
    Bestimmt hatte seine Mutter geglaubt, der Enkel würde den Großvater milde stimmen, und sie könnte zurückkehren. Mit seinem Jähzorn trieb er sie einst aus dem Haus in eine übereilte Heirat. „Ich kam vom Regen in die Traufe“, erzählte ihm seine Mutter.
    Mike berichtete ihr lange Jahre nichts von den Misshandlungen, aber als sie es erfuhr, hatte sie ein Einsehen, und er musste er nie mehr hinfahren.
     
    Annes letzte Nachtbereitschaft war anstrengend gewesen. Zwar geschahen keine Verbrechen und sie wurde zu keinem Außeneinsatz gerufen, aber sie konnte, wie so oft in letzter Zeit, nicht durchschlafen. Nach nur zwei Stunden wachte sie wieder auf und wälzte sich im Dämmerschlaf bis um fünf Uhr morgens von einer Seite zur anderen. Als sie erneut aufwachte, stand sie leise auf. Sie wollte ihren Sohn Julian im Nebenzimmer nicht stören. Ihre Mutter Magda wohnte allein in der Erdgeschosswohnung, doch die Vierundachtzigjährige hatte einen leichten Schlaf und stand bei jedem Geräusch im Haus auf. Anne hatte keine Lust, nachher beim Rausgehen wieder ihr Gejammer anzuhören.
    Ohne das Licht im Flur anzumachen, ging sie ins Bad und wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser. Ihre gelockten mahagonifarbenen Haare lagen völlig verknautscht. Anne bürstete sie gründlich, sie betrachtete sich prüfend im Spiegel dabei. Ihre Haut war zart gebräunt, seit dem ersten Sonnenbad traten die Sommersprossen auf der Nase, den Wangen und Armen deutlicher hervor. Eigentlich sah sie nicht aus wie
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