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Blutkirsche

Blutkirsche

Titel: Blutkirsche
Autoren: Gudrun Weitbrecht
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    Ihn ärgerte es, dass der Unmut gegen die Pläne wuchs, mehr als 60   000 Unterschriften der Gegner waren zusammengekommen, und mit jedem Tag wurden es mehr. Nach der Wahl konnte sich die Zusammensetzung des Gemeinderats ändern, und alles würde wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Gab es nicht auch Erben des Architekten Bonatz, dem Erbauer des Bahnhofs, die eine Urheberrechtsklage einreichen konnten? Alles schien zum jetzigen Zeitpunkt fraglich. Er hatte auf sein Glück gebaut, das ihm bis vor kurzem gewogen gewesen war.
    Aber nun schien es ihn zu verlassen, das Geld, das er bei der Real Estate angelegt und einem Hedgefond-Manager anvertraut hatte, war den Bach runter. Futsch! Wie konnte er nur auf die windigen Versprechungen hereinfallen? Hatte seine Gier ihn unvorsichtig werden lassen?
    Und nun wollte ihn noch der Kohl im Stich lassen. Wollte einfach nicht mehr mitmachen.
    Nein, er würde nie mehr arm sein − und wenn er über Leichen gehen musste. Heute noch musste er die Sache erledigen, viel zu lange hatte er es vor sich hergeschoben.
     
    Wilma lief schneller, immer schneller, so als könne sie beim Laufen alles vergessen. Den Waldweg von Botnang entlang des Feuerbachs kannte sie in- und auswendig. Nach dem nächtlichen Regen war er heute Morgen besonders schlammig und glitschig. Ab dem Hundeplatz belegte wenigstens Schotter den Pfad. Dieses Stück konnte sie schneller laufen.
    Wilma befürchtete, zu stürzen und sich zu verletzen. Das konnte böse ausgehen, wie sie aus ihrer Erfahrung als Krankenschwester in der chirurgischen Abteilung wusste. Aber sie trainierte häufig, also bestand wahrscheinlich kein Grund zur Sorge. Sie fühlte sich unbeschwert und genoss das Joggen an solchen Morgen, an denen kaum Menschen unterwegs waren. Heute hatte sie einen freien Tag. Mal keine Urinalflaschen leeren oder quengelige Patienten hochheben und waschen! Die Vorstellung, dies noch bis zum Rentenalter mit siebenundsechzig tun zu müssen, empörte sie maßlos. Keine Kollegin, die sie kannte, würde diese mental und körperlich schwere Arbeit bis dahin durchhalten. Wenn sie früher aufhören wollte, musste sie Kürzungen ihrer Rentenansprüche hinnehmen. Ein sorgenfreies Leben würde mit dem bisschen Geld nicht möglich sein.
    |16| Früher arbeitete sie im Feuerbacher Krankenhaus. Aber nun war das Krankenhaus geschlossen und sollte abgerissen werden.
    Erst wurde das Gebäude für über drei Millionen saniert und nach zwei Jahren vom Gemeinderat als nicht mehr zeitgemäß erklärt. Trotz schwarzer Zahlen und der international anerkannten Operationserfolge des Chefarztes. Ein Schildbürgerstreich, fand Wilma. Dem Gemeinderat konnte es egal sein, dass die Patienten nach der Zusammenlegung im Cannstatter Krankenhaus auf den Fluren campieren mussten.
    Wilmas Atem kam jetzt stoßweise und ihr Pferdeschwanz, zu dem sie das lange Haar zusammengebunden hatte, wippte bei jedem Laufschritt mit. Der Tau stieg auf und ihr Anzug fühlte sich mit einem Mal klamm an.
    Inzwischen floss Schweiß vom Gesicht in die Halskuhle und vom Nacken über den Rücken. Auf ihrem T-Shirt bildeten sich Salzränder. Trotzdem schlug ihr Puls gleichmäßig schnell, sie fühlte sich fit wie schon seit Tagen nicht. Sie hörte ein Keuchen hinter sich, Schritte auf dem Schotterboden. Als sie sich umdrehte, sah sie niemanden. Spielten ihre Sinne verrückt?
    Wie aus dem Nichts, in der Biegung des Pfades, überholte sie eine unbekannte Joggerin, tauschte kurz einen stummen Gruß mit ihr und verschwand bei der nächsten Gabelung. Eigentlich wollte Wilma nun bergauf die enge kopfsteingepflasterte Straße entlanglaufen – ihr Weg zur Kleingartenanlage, aber plötzlich sah sie eine silberfarbene S-Klasse auf sich zurasen. Der Fahrer kam ihr bekannt vor, obwohl er eine Sonnenbrille und eine Baseballkappe trug. Wilma stoppte gerade noch rechtzeitig und drückte sich an den Heckenrand, bemerkte im gleichen Augenblick, dass sie auf etwas Weiches getreten war. Sie hob den rechten Fuß hoch und entdeckte einen braunen Haufen unter ihrer Schuhsohle. Bis jetzt hatte sie den vielen Kotspuren, die auf dem Weg zum Hundeplatz lagen, ausweichen können. „Verfluchte Kacke, da kann ich wieder stundenlang putzen“, schimpfte sie laut vor sich hin. „Was soll’s? Heute ist Schluss. Ich muss das ein für alle Mal zu Ende bringen.“
     
    „Ma, warum bist du denn schon auf? Es ist doch erst sieben Uhr?“ Julian, Annes fünfzehnjähriger Sohn, stand in der Tür und
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