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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Autoren: Ken Follett
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Prolog
    1123
    Die kleinen Jungen waren die Ersten, die zum Richtplatz kamen.
    Es war noch dunkel, als sie aus ihren Verschlägen schlüpften. Lautlos wie Katzen huschten sie in ihren Filzstiefeln über den jungfräulichen Schnee, der sich wie Linnen über die kleine Stadt gebreitet hatte, und entweihten ihn mit ihren Schritten. Ihr Weg führte sie vorbei an windschiefen Holzhütten und über Sträßchen und Gassen, die von gefrorenem Matsch bedeckt waren, zum stillen Marktplatz, auf dem der Galgen bereits wartete.
    Die Jungen verachteten alles, was den Älteren lieb und teuer war. Für Schönheit und Rechtschaffenheit hatten sie nur Hohn und Spott übrig. Sahen sie einen Krüppel, so brüllten sie vor Lachen, und lief ihnen ein verletztes Tier über den Weg, so bewarfen sie es mit Steinen, bis es tot war. Sie waren stolz auf ihre Narben. Besonders angesehen aber waren Verstümmelungen: Ein Junge, dem ein Finger fehlte, konnte es leicht bis zu ihrem Anführer bringen. Sie liebten nichts so sehr wie die Gewalt und liefen meilenweit, um Blut zu sehen.
    Und niemals fehlten sie, wenn der Henker kam.
    Einer der Jungen pinkelte an das Gerüst, auf dem der Galgen stand. Ein anderer kletterte die Treppen hinauf, griff sich mit beiden Daumen an den Hals und ließ sich fallen wie einen nassen Sack, das Gesicht abstrus verzerrt; die anderen johlten vor Vergnügen und lockten damit zwei Hunde an, die kläffend über den Marktplatz rannten. Einer der jüngeren Burschen biss unbekümmert in einen Apfel, da kam ein älterer, versetzte ihm einen Schlag auf die Nase und nahm ihm den Apfel weg. In seiner Wut ergriff der Kleine einen spitzen Stein und brannte ihn einem der Köter aufs Fell; der jaulte auf und machte sich davon.
    Dann gab’s nichts mehr zu tun. Die Horde ließ sich auf den trockenen Steinplatten im Portal der großen Kirche nieder und wartete darauf, dass irgendetwas geschah.
    Hinter den Fensterläden der ansehnlichen Holz- und Steinhäuser, die den Marktplatz säumten, flackerte Kerzenschein auf. Die Küchenmägde und Lehrbuben der wohlhabenden Händler und Handwerker machten Feuer, setzten Wasser auf und kochten Hafergrütze. Der schwarze Himmel färbte sich langsam grau. Gebeugten Hauptes erschienen die Frühaufsteher in den niedrigen Türen ihrer Häuser und gingen hinab zum Fluss, um Wasser zu holen. Obwohl sie in schwere Mäntel aus grober Wolle gehüllt waren, zitterten sie vor Kälte.
    Eine Weile später betrat eine Gruppe junger Männer den Platz – Knechte, Arbeiter und Lehrburschen. Sie lärmten und taten sich groß, vertrieben mit Tritten und Schlägen die Kinder aus dem Portal, lehnten sich selbst gegen die gemeißelten Steinbögen, kratzten sich, spuckten aus und redeten mit aufgesetzter Kaltschnäuzigkeit über den Tod am Galgen.
    »Wenn er Glück hat, bricht der Hals gleich beim Fall«, sagte einer, »das ist kurz und schmerzlos. Aber wenn er Pech hat und der Hals bricht nicht, dann hängt er am Strick, wird puterrot im Gesicht, und er schnappt nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Bis er dann endlich erstickt.« – »Und das kann so lange dauern, wie ein Mann braucht, um eine Meile zurückzulegen!«, fiel ein anderer ein, und ein Dritter meinte, es könne alles noch viel schlimmer kommen, er selbst hätte schon einmal gesehen, wie ein Gehenkter erst gestorben sei, als sein Hals schon eine Elle lang war!
    Am anderen Ende des Marktplatzes kamen die alten Weiber zusammen, so weit als irgend möglich entfernt von den jungen Männern, denen jede Grobheit und jedes böse Wort gegenüber ihren Großmüttern zuzutrauen war. Die alten Frauen waren immer schon früh auf den Beinen. Längst brannte das Feuer im Herd und war die Stube gefegt.
    Die Witwe Brewster, eine kräftige Person, die sie alle als ihre Wortführerin anerkannten, gesellte sich zu ihnen. Mühelos rollte sie ein Fässchen Bier vor sich her wie ein Kind seinen Reifen. Kaum machte sie sich daran, es zu öffnen, da standen die Kunden auch schon mit Krügen und Eimern Schlange.
    Der Büttel des Vogts öffnete das Haupttor und ließ die Bauern ein, die in den Häuschen vor der Stadtmauer lebten. Einige von ihnen wollten Eier, Milch und frische Butter verkaufen, andere kamen, um sich mit Bier und Brot zu versorgen, wieder andere aber blieben einfach auf dem Marktplatz stehen und warteten auf die Hinrichtung.
    Von Zeit zu Zeit verrenkten die Leute die Hälse wie vorsichtige Spatzen und spähten zur Burg hinauf, die auf einer Anhöhe über dem
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