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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Autoren: Ken Follett
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um Euren Vater getrost töten zu können, erwiesen sich als Geister, die wir nicht mehr loswurden. Eure Mutter verfluchte uns nach der Hinrichtung, und der Fluch tat seine Wirkung: Prior James ging an der Last, die auf seinem Gewissen lag, zugrunde – Remigius berichtete darüber während der Verhandlung gegen Philip. Percy Hamleigh starb, bevor die Wahrheit ans Licht kam – doch sein Sohn endete am Galgen. Und was mich betrifft, so braucht Ihr mich bloß anzusehen. Der Meineid, den ich vor fast fünfzig Jahren schwor, hat mich jetzt Stellung und Ansehen gekostet.« Waleran wirkte vollkommen erschöpft; offenbar kostete ihn die Aufrechterhaltung seiner strengen Selbstbeherrschung viel Kraft. »Wir hatten alle Angst vor Eurer Mutter, denn keiner von uns vermochte zu sagen, wie viel sie wusste. Wie sich am Ende herausstellte, war es gar nicht so viel – aber es hat gereicht.«
    Auch Jack fühlte sich ganz ausgelaugt. Endlich hatte er die ganze Wahrheit über seinen Vater erfahren – und nun empfand er weder Rachelust noch Wut. Seinen leiblichen Vater hatte er nie gekannt, aber er hatte Tom gehabt, dem er seine Liebe zum Baumeisterhandwerk verdankte – die zweitgrößte Leidenschaft seines Lebens.
    Jack erhob sich. Die Ereignisse lagen so weit zurück, dass er darüber keine Tränen mehr vergießen konnte. Seither war so viel geschehen – und das meiste davon war schön und gut gewesen.
    Er blickte hinab auf den alten Mann, der auf der Bank saß, ein klägliches Häufchen Elend, zermürbt von der Bitterkeit der Reue. Auf einmal empfand er Mitleid für ihn. Wie furchtbar es sein musste, als alter Mensch zu erkennen, dass man sein Leben vertan hat. Waleran sah auf, und zum ersten Mal trafen sich ihre Blicke. Der alte Mann zuckte zusammen und wandte sich ruckartig ab, als habe man ihn ins Gesicht geschlagen. Jack konnte in diesem Moment seine Gedanken lesen: Er hat das Mitleid in meinen Augen erkannt, dachte er.
    Und für Waleran gab es keine schlimmere Erniedrigung als das Mitleid seiner Feinde.
    +++
    Philip stand am Westtor der uralten christlichen Stadt Canterbury. Versehen mit den prachtvollen Insignien eines englischen Bischofs, trug er den juwelenbesetzten Krummstab mit königlicher Würde. Es goss in Strömen.
    Sechsundsechzig Jahre zählte er, und die Kälte fuhr ihm in die alten Knochen. Es war das letzte Mal, dass er sich so weit von seinem Amtssitz fortwagte, doch um nichts in der Welt hätte er diesen Tag missen wollen. In gewisser Hinsicht bedeutete die heutige Zeremonie die Krönung seines Lebenswerks.
    Dreieinhalb Jahre waren seit der geschichtsträchtigen Ermordung des Erzbischofs Thomas erst vergangen, doch hatte sich in dieser kurzen Zeit ein mystischer Kult um Thomas Becket über die ganze Welt verbreitet. Nie hätte Philip sich träumen lassen, was er mit der kleinen Kerzenprozession durch die Straßen von Canterbury damals ausgelöst hatte. Mit geradezu ungebührlicher Eile hatte der Papst Thomas heiliggesprochen. Im Heiligen Land nannte sich ein neuer Mönchsorden sogar Die Ritter des heiligen Thomas von Acre. König Heinrich war machtlos; gegen eine so mächtige Volksbewegung kam er nicht an. Sie war zu kraftvoll, als dass ein Einzelner hätte Widerstand leisten können.
    Für Philip lag die Bedeutung des Phänomens in dem, was es über die Macht des Staates aussagte. Thomas’ Tod hatte gezeigt, dass sich der Monarch im Konflikt zwischen Kirche und Krone durch Anwendung brutaler Gewalt stets durchsetzen konnte. Doch der Kult des heiligen Thomas bewies, dass derartige Erfolge nichts als Pyrrhussiege waren. Absolute Macht besaß der König nicht; der Wille des Volkes vermochte sie zu beschränken. Es war ein Wandel, der sich zu Philips Lebzeiten vollzogen hatte, und er war nicht nur Zeuge dieser Veränderung gewesen, sondern hatte auch sein Teil dazu beigetragen. Die Feierlichkeiten an diesem Tag sollten daran erinnern.
    Ein stämmiger Mann mit auffallend großem Kopf näherte sich, von Regenschwaden umwölkt, der Stadt. Er trug weder Hut noch Stiefel. In einigem Abstand folgte ihm eine große Zahl Berittener.
    Der Mann war König Heinrich.
    Während der durchnässte König durch Schlamm und Matsch zum Stadttor schritt, verhielt sich die Menge so still, als trüge man jemanden zu Grabe.
    Philip kreuzte, wie vorgesehen, den Weg des barfüßigen Königs und setzte sich nun an die Spitze des Zuges, dessen Ziel die Kathedrale war. Heinrich folgte ihm mit gebeugtem Haupt – er, der sonst so
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