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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Autoren: Ken Follett
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Städtchen thronte. Gleichmäßig stieg der Rauch aus dem Küchentrakt, hie und da blakte Fackelschein hinter den schmalen Fensterschlitzen des Wohnturms auf. Dann – hinter der dicken grauen Wolke mochte gerade die Sonne aufgehen – öffneten sich die mächtigen Holztore, und eine kleine Prozession verließ die Burg. Voran ritt auf einem feinen schwarzen Ross der Vogt, gefolgt von einem Ochsenkarren mit dem gefesselten Delinquenten. Dem Karren folgten drei Reiter, ihre Gesichter waren auf die Entfernung nicht zu erkennen, doch verriet ihre Kleidung, dass es sich um einen Ritter, einen Priester und einen Mönch handelte. Die Nachhut bildeten zwei Bewaffnete.
    Sie waren alle dabei gewesen, als tags zuvor im Kirchenschiff Gericht gehalten worden war. Der Priester hatte den Dieb auf frischer Tat ertappt: Der Mönch hatte bezeugt, dass der silberne Kelch dem Kloster gehörte; der Ritter war des Diebes Herr und hatte bestätigt, dass ihm der Bursche davongelaufen sei, und der Vogt hatte das Todesurteil gefällt.
    Während die kleine Gruppe langsam den Burgberg heruntergeritten kam, strömten immer mehr Menschen auf dem Marktplatz zusammen und versammelten sich um den Galgen. Zu den Letzten, die kamen, gehörten die führenden Bürger der Stadt: der Schlachter, der Bäcker, zwei Ledergerber, zwei Schmiede, der Messerschmied und der Bogner. Und alle brachten sie ihre Weiber mit.
    Die Menge sah der Exekution mit gemischten Gefühlen entgegen. Normalerweise genossen es die Leute, dem Henker bei der Ausübung seiner Pflicht zuzusehen, denn die Delinquenten waren meistens Diebe, und Diebe wurden von ihnen, die ihre Habe im Schweiße ihres Angesichts erwarben, mit unversöhnlichem Hass verfolgt. Der Dieb allerdings, dem es an diesem Tage an den Kragen gehen sollte, war kein gewöhnlicher Dieb. Niemand wusste, wer er war und woher er kam. Er hatte keinen Menschen aus dieser Stadt bestohlen, sondern Mönche in einem zwanzig Meilen entfernten Kloster. Und was er gestohlen hatte, war ein mit Juwelen verzierter Silberkelch von so unermesslichem Wert, dass er nie im Leben einen Käufer dafür gefunden hätte. Das war schon etwas anderes als der Diebstahl eines Schinkens, eines neuen Messers oder eines guten Gürtels, der für seinen rechtmäßigen Besitzer einen echten Verlust bedeutete. Nein, eines so unsinnigen Vergehens wegen konnten sie den Mann nicht hassen. Gewiss, als der Ochsenkarren mit dem Gefangenen auf dem Marktplatz eintraf, johlten und pfiffen einige, aber es waren im Grunde nur halbherzige Missfallenskundgebungen. Die Einzigen, die den Dieb mit sichtlicher Begeisterung verhöhnten, waren die Gassenjungen.
    Von den Bewohnern der Stadt hatte kaum einer an der Gerichtsverhandlung teilgenommen. Gerichtstage waren keine Feiertage, und sie alle hatten ihre Arbeit. Sie sahen den Dieb jetzt zum ersten Male. Er war noch ziemlich jung, zwischen zwanzig und dreißig; von durchschnittlicher Größe und Gestalt zwar, ansonsten aber eine recht merkwürdige Erscheinung. Seine Haut war so weiß wie der Schnee auf den Dächern, die Augen – von leuchtendem Grün – standen vor, und sein Haar war von der Farbe einer geschabten Mohrrübe. Die jungen Mädchen fanden ihn hässlich, den alten Frauen tat er leid, und die Gassenjungen lachten und lachten, bis sie umfielen.
    Den Vogt kannten die Leute alle. Die drei anderen Männer jedoch, die das Schicksal des Diebes besiegelt hatten, waren Fremde. Der Ritter, ein feister Mann mit strohblondem Haar, war offenbar eine nicht unbedeutende Person, kam er doch auf einem riesigen Schlachtross daher, das gut und gerne ebenso viel kostete, wie ein Zimmermann in zehn Jahren verdiente. Der Mönch war um Vieles älter, fünfzig oder fünfundfünfzig vielleicht, ein hochgewachsener, hagerer Mann, der vornübergebeugt im Sattel saß, als mache ihm die Last des Lebens schwer zu schaffen. Am auffallendsten war der Priester. Er war noch jung, mit scharf geschnittener Nase und glattem schwarzem Haar. Er trug ein schwarzes Gewand und einen schwarzen Umhang und ritt auf einem dunklen Fuchshengst. Sein Blick war hellwach, so lauernd und bedrohlich wie der einer Katze, die ein Nest mit jungen Mäusen wittert.
    Ein kleiner Junge zielte sorgfältig und spuckte dem Gefangenen ins Gesicht – kein schlechter Schuss, denn er traf genau zwischen die Augen. Der Delinquent stieß einen Fluch aus und wollte auf den Spucker losgehen, doch die Seile, mit denen er an beiden Seiten des Karrens festgebunden war,
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