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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Autoren: Ken Follett
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jeden Tag Fleisch auf dem Tisch. Nie hatte sie Tom verziehen, dass er diese einmalige Gelegenheit ausgeschlagen hatte. Der unwiderstehliche Drang, einen Dom erbauen zu wollen, war ihr unbegreiflich; sie verstand weder die organisatorische Vielfalt noch die intellektuelle Herausforderung, die in den Berechnungen lag. Weder die gewaltige Höhe der Mauern noch die atemberaubende Schönheit und Größe des fertigen Bauwerks vermochten sie zu begeistern. Tom dagegen, der einmal an diesem Wein genippt hatte, würde sich nie wieder mit etwas Geringerem zufriedengeben.
    Das alles lag jetzt zehn Jahre zurück, und seitdem waren sie weit herumgekommen. Hier entwarf er ein neues Kapitelhaus für ein Kloster, dann arbeitete er ein oder zwei Jahre an einer Burg oder errichtete für einen reichen Kaufmann ein Stadthaus. Doch sobald er ein wenig Geld gespart hatte, nahm er seinen Abschied und zog mit Frau und Kind weiter – immer auf der Suche nach einer Kathedrale.
    Er sah von der Werkbank auf und erblickte Agnes, die am Rand der Baustelle stand. In der Rechten trug sie einen Vesperkorb und in der Linken einen großen Krug Bier, den sie mit der Hüfte abstützte. Es war Mittag. Er sah sie liebevoll an. Niemand wäre so vermessen gewesen, Agnes hübsch zu nennen, doch verrieten die breite Stirn, die großen braunen Augen, die gerade Nase und die starke Kieferpartie enorme innere Kraft. Ihr dunkles, drahtiges Haar war in der Mitte gescheitelt und auf dem Hinterkopf zusammengebunden. Agnes war Toms Seelengefährtin.
    Sie schenkte Tom und Alfred Bier ein. Einen Augenblick standen sie wortlos beisammen, die beiden großen Männer und die kräftige Frau, und tranken Bier aus hölzernen Bechern. Da kam aus einem Weizenfeld die siebenjährige Martha gesprungen, das vierte Mitglied der Familie. Sie war so hübsch wie eine Narzisse – freilich eine Narzisse, der ein Blütenblatt fehlt, denn zwei Milchzähne waren ihr ausgefallen und die neuen noch nicht nachgewachsen. Sie rannte auf Tom zu, küsste ihn auf den staubigen Bart und nippte an seinem Bier. Er zog ihren knochigen Körper an sich und drückte sie. »Trink du nur nicht zu viel«, sagte er, »sonst fällst du in den Graben!« Die Kleine torkelte im Kreis umher und spielte die Betrunkene.
    Sie ließen sich auf dem Holzstoß nieder. Agnes reichte Tom ein großes Stück Weißbrot, eine dicke Scheibe gekochten Schinkenspeck und eine kleine Zwiebel. Tom ließ sich das Fleisch schmecken und begann die Zwiebel zu schälen. Agnes gab den Kindern zu essen und bediente sich dann auch selbst. Vielleicht war es wirklich verantwortungslos, um der unsicheren Hoffnung auf eine neue Kathedrale willen den langweiligen Posten in Exeter auszuschlagen, dachte Tom bei sich. Aber wie dem auch sei, Hunger hat meine Familie trotz dieser Leichtfertigkeit nie leiden müssen.
    Er zog sein Essmesser aus der Tasche seiner Lederschürze, schnitt sich eine Scheibe Zwiebel ab und verzehrte sie mit einem Stück Brot. Die Zwiebel brannte süß in seinem Mund.
    Da sagte Agnes auf einmal: »Ich bin wieder schwanger.«
    Tom hörte auf zu kauen und starrte sie an. Ein Freudenschauer durchfuhr ihn, und weil er nicht wusste, was er sagen sollte, grinste er sie nur dümmlich an. Agnes errötete schließlich und fügte hinzu: » So überraschend ist es ja nun auch wieder nicht!«
    Tom umarmte sie. »Schön, schön«, sagte er, noch immer vor Freude strahlend. »Ein Kindchen, das mir den Bart zausen kann! Und ich dachte schon, das nächste Kind in der Familie würde Alfreds sein.«
    »Freu dich nicht zu früh«, ermahnte ihn Agnes. »Einem ungeborenen Kind soll man noch keinen Namen geben. Das bringt Unglück.«
    Tom nickte zustimmend. Agnes hatte eine Totgeburt und mehrere Fehlgeburten hinter sich, und ein kleines Mädchen, Matilda, war im Alter von zwei Jahren gestorben. »Wär trotzdem schön, wenn es ein Junge wird«, sagte er, »jetzt, wo Alfred schon so groß ist. Wann ist es denn so weit?«
    »Nach Weihnachten.«
    Tom fing an zu rechnen. Der Rohbau des Hauses sollte vor dem ersten Frost stehen und zum Schutz gegen den Winter mit Stroh bedeckt werden. Die Steinmetzen sollten in den kalten Monaten die Steine für Fenster, Gewölbe, Türfassungen und den Kamin schneiden, die Zimmerleute Dielenbretter, Türen und Fensterläden zimmern, während er selbst das Gerüst für die Arbeiten in den oberen Stockwerken vorbereiten wollte. Die folgenden Arbeiten standen dann im nächsten Frühjahr an: die Fertigstellung der
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