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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Autoren: Ken Follett
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angelegt, in dem Vorräte und Gerätschaften gelagert werden konnten. Die gewölbte Decke diente als Brandschutz. Über dem Speicher sollte dann die eigentliche Wohnstube entstehen, die über ein außerhalb der Mauern zu errichtendes Treppenhaus erreichbar war. Da sie so hoch lag, war sie nur schwer anzugreifen und um so leichter zu verteidigen. An der Außenwand der Wohnstube sollte sich ein Schornstein erheben, durch den der Rauch vom Kamin abzog – eine wahrhaft umwälzende Neuerung. Bisher hatte Tom nur ein einziges Mal ein Haus mit Schornstein gesehen. Es war ihm jedoch so einleuchtend erschienen, dass er sich sofort zum Nachbau entschlossen hatte. Im zweiten Stock, also oberhalb der großen Wohnstube, sollte ein kleines Schlafzimmer entstehen; die jungen Damen von Adel waren sich zu gut, um gemeinsam mit Männern, Mägden und Jagdhunden in der großen Stube zu schlafen.
    Die Küche sollte in einem eigenen Gebäude untergebracht werden, denn irgendwann ging jede Küche einmal in Flammen auf. Um Schlimmeres zu verhüten, legte man sie daher meist ein gutes Stück entfernt vom Wohnhaus an – und begnügte sich mit lauwarmen Mahlzeiten.
    Tom war damit beschäftigt, den Eingang des Hauses zu errichten. Die Türpfosten sollten rund sein und wie Säulen aussehen; das betonte die Würde des jungvermählten Paares von adeligem Geblüt, das hier Wohnung nehmen wollte. Mit Blick auf das vorgeformte hölzerne Simsbrett, das ihm als Richtschnur diente, setzte Tom seinen Eisenmeißel an und klopfte vorsichtig mit dem großen Holzhammer darauf. Viele kleine Splitter und Bruchstücke rieselten herunter, und die behauene Fläche war ein wenig deutlicher gerundet als zuvor. Er hatte es wieder einmal geschafft. Die glatte Bruchfläche war gut genug für eine Kathedrale.
    In Exeter hatte Tom einst am Bau der Kathedrale mitgewirkt. Anfangs war es für ihn ein Auftrag wie jeder andere gewesen, und er hatte mit Ärger und Verdrossenheit die Ermahnungen des Baumeisters hingenommen, der immer wieder etwas an seiner Arbeit auszusetzen hatte. Tom kannte seine Stärken und wusste, dass er ein überdurchschnittlich guter und gewissenhafter Steinmetz und Maurer war. Erst allmählich ging ihm auf, dass die Mauern einer Kathedrale eben nicht nur gut, sondern tadellos zu sein hatten, denn eine Kathedrale wurde zu Ehren Gottes errichtet und war zudem so groß, dass die geringste Abweichung zum vielleicht tödlichen Konstruktionsfehler werden konnte.
    Toms Ärger verwandelte sich in Faszination. Die gnadenlose Detailbesessenheit im Verbund mit einem äußerst anspruchsvollen Bauvorhaben öffnete ihm die Augen für die Wunder seines Handwerks. Bei dem Baumeister in Exeter lernte er die Bedeutung der Proportionen kennen, die Symbolik verschiedener Zahlen, die nahezu magischen Formeln zur richtigen Berechnung der Dicke einer Mauer oder des Winkels einer Stufe in einer Wendeltreppe. All diese Dinge fesselten ihn, und es erstaunte ihn, als er erfuhr, dass viele Steinmetzen unfähig waren, sie zu begreifen.
    Nach einiger Zeit wurde Tom zur rechten Hand des Baumeisters und war nun auch imstande, dessen Schwächen zu erkennen. Der Mann war ein hervorragender Handwerker, aber ein unfähiger Organisator. Zur rechten Zeit die richtige Menge Steine zu beschaffen, um mit den Maurern Schritt halten zu können, stellte für ihn ein schier unüberwindliches Problem dar. Wie brachte man die Schmiede dazu, in ausreichender Zahl das gerade benötigte Werkzeug herzustellen? Wie schaffte man genügend gebrannten Kalk und Sand für den Mörtel her? Wer fällte das Holz für die Zimmerleute, und wer beschaffte vom Domkapitel das Geld, um alles zu bezahlen?
    Wäre Tom bis zum Tode des Dombaumeisters in Exeter geblieben, hätte er gut und gerne dessen Nachfolger werden können. Doch es kam anders. Dem Domkapitel ging – nicht zuletzt infolge der Misswirtschaft des Baumeisters – das Geld aus, und die Handwerker waren gezwungen, sich anderswo nach Arbeit umzusehen.
    Der Kastellan von Exeter bot Tom die Stelle des Baumeisters an. Seine Aufgabe hätte darin bestanden, die Befestigungen der Stadt zu renovieren und auszubauen – eine Lebensaufgabe, falls nichts dazwischenkam.
    Doch Tom hatte das Angebot abgelehnt. Er wollte wieder eine Kathedrale bauen.
    Agnes, seine Frau, hatte diesen Entschluss nie verstanden. Als Festungsbaumeister in Exeter hätte er mit seiner Familie in einem guten Steinhaus leben können. Sie hätten Diener gehabt und eigene Ställe und
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