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Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche
Autoren: Bodo Kirchhoff
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    Ich hätte mehr auf mich hören sollen, auf mein Bangen um ihn in diesen Minuten, die so wenig von letzten Minuten hatten, statt zu glauben, es würde einfach immer so weitergehen mit unserer lebenslangen ungeklärten Freundschaft. M.s plötzliches Erzählen von dem versteckten See, auf dem zu rudern für ihn wohl noch einmal das Glück war – wir telefonierten spät abends, ich sah auf meinen völlig unversteckten italienischen Lago –, hatte nämlich etwas Erschütterndes, wie das Erzählen von einem Garten, der verschlossenen Kindern das Herz öffnet, weiter als je danach. Und ihn, der schon immer für sich war, hatten Stille und Schönheit dieses Sees geöffnet, die Farben im Ton der Ufer, flaschen- und salbeigrün, sagte er, je nach Wald oder Schilf, und der Geruch von Harz, wo Bäume bis ans Wasser reichten, oder nach Moder, wo Äste und Laub im Flachen trieben. Er klang süchtig nach der Reinheit eines Sommermorgens, dem leisen Klatschen der Ruderblätter, von dem er sprach, oder der frühen, über Kiefern und Birken schießenden Sonne. Sein versteckter See schien das letzte, für ihn erreichbare Stück Welt zu sein, das ihn noch staunen ließ, obwohl er dort alles kannte, aber nichts davon in sich zerpflückt hat, wie er es sonst mit allem und jedem tat; und so war es die richtige Umgebung, um dort das Leben zu lassen, oder, wie es auch heißt, den Geist auszuhauchen – animam efflare, schon damals in Lateinstunden nur allzu gern von ihm aufgegriffen.
    Unsere erste Begegnung war an einem offenen Fenster, dritter Stock, ich hatte etwas kühn auf der Kante gesessen, schon im Schlafanzug, und zum Sportplatz hinter dem Schlossheim geschaut, zu dieser Stunde am Anreisetag nach den Osterferien – einst der Beginn des Schuljahrs –, im letzten Licht, und er kam zur Tür herein. Mit der einen Hand trug er seinen Koffer, in der anderen hielt er Zigaretten und Feuerzeug, schlecht verborgen, weil die Hand zu schmal war; dafür hatte sein Blick etwas, das einen Fünfzehnjährigen schon wie den Mann auf verlorenem Posten aussehen lässt, wenn er nicht einen Gegenstand der Überheblichkeit mit sich führt, ein Buch, eine Kamera, eine Brille oder eben Zigaretten und Feuerzeug. Und nur Sekunden später – er hatte fast das Fenster erreicht, ohne etwas zu sagen – tauchte auch noch ein handliches Tonbandgerät auf, seinerzeit sensationell, wie nebenbei aus dem Koffer geholt und vor mir auf das Fensterbrett gestellt, während er für die Verspätung – eigentlich sollten alle Neuen bis zum Abendessen da sein – Worte fand, die damals nicht von dieser Welt waren: Zu viel Verkehr. Dann gab er mir die schmale Rechte, den Daumen angelegt, um meinem Druck auszuweichen, in der anderen Hand nun offen die Zigaretten, und mit einer kurzen geübten Bewegung ließ er eine einzige Zigarette zur Hälfte aus der Schachtel schnellen, ohne die anderen mitzuziehen. Willst du? fragte er und hielt mir die Zigarette mit ihrer Spitze vor die Lippen, damit ich mich unmittelbar, als sei’s eine Übung fürs Küssen, bediene. Gleichzeitig nannte er Vor- und Nachnamen, als wollte er mit mir ein Geschäft abschließen, und brachte mich dazu, auch meinen vollen Namen zu nennen, bevor er den Überheblichkeitsgegenstand Nummer eins aufschnappen ließ und erst mir und dann sich hinter schützender Hand Feuer gab. Beide standen wir jetzt am Fenster, weit hinaus gebeugt, so konnte man den Rauch ins Freie blasen und die Zigaretten jederzeit in den Hof fallen lassen. Zwischen uns, genauer gesagt, seiner Hüfte und meiner – er trug nagelneue, nur über den Schenkeln schon bearbeitete Levis und ein weißes, offenes Hemd, das den Flaum auf seiner Brust zeigte –, war nur das Tonband, auf dem er etwas Bestimmtes suchte, die passende Begleitung für unser verbotenes Tun. Und als schließlich ein italienisches Lied kam, das ich noch nie gehört hatte – die alte Partisanenhymne Bella ciao –, fragte er mit Blick aus dem Fenster, ob ich schon einmal in Ravello gewesen sei. Nein, sagte ich, und er zeigte mir, beim langsamen Ausblasen des Rauchs, im Ansatz schon das Lächeln, das er sich bis zum Ende bewahrt hat, um die Welt auf Abstand zu halten. Und der Junge, der mir wieder nah wird, wenn ich heute von diesem Abend erzähle, machte sich Gedanken, was das Lächeln wohl bedeuten könnte, ohne zu ahnen, dass es auch gar nichts bedeuten kann und nur deshalb hinter den Rauchspiralen erscheint, weil einer dazu imstande ist, so fein seinen Mund in die
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