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Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche
Autoren: Bodo Kirchhoff
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gespenstische Ähnlichkeit mit M., als der im selben Alter war. Wie vom Marasmus seiner letzten Jahre reingewaschen, kommt M. als Herr N. auf mich zu, nur das Freundliche des Blicks stört den Eindruck; der Doppelgänger befindet sich ganz auf der Seite des Lebens, auf der M. nur Gast war. Und unvergesslich, wie Herr N., noch ehe er als Lehrer am Schiller-Gymnasium offiziell in Erscheinung getreten war, zum ersten Mal auf mich zukam, vor meinem Wohnhaus, und ich augenblicklich annahm, M. sei wahnsinnig geworden und gehe, ohne zu grüßen, dort auf und ab. Ich rief seinen Namen, zweimal sogar, aber der Angerufene reagierte nicht, er schaute bloß leicht erschrocken (weil er den Rufenden als Autor kannte, wie ich später erfuhr) und hielt wohl mich für den Wahnsinnigen, träumend am helllichten Tag. Und nun geht Herr N. nach kurzem Hallo – wir haben nie über den Vorfall gesprochen – wahrscheinlich zu seiner Schule, während der Autor die Begegnung in einem Vokabelheft, das ihm lieber ist als jedes Notizbuch, noch im Stehen festhält.
    Und in der folgenden Nacht ein tatsächlicher Traum, so zwingend deutlich, wie nur Glücks- oder Albträume sein können, in beiden Fällen das Erwachen halb Enttäuschung, halb Erlösung. M. lebte wieder, er war nicht tot, er lief mir in einem Ort am Meer über den Weg, und ich wollte von meinen Notizen erzählen, dem Versuch eines Buchs über ihn und mich oder über uns beide, doch er hatte keine Zeit dafür, er musste weiter, und ich begriff, dass mein Buch jetzt keinen Sinn mehr hatte; den hatte es nur, als er tot war. Also freute ich mich auch nicht, ihn noch am Leben zu wissen und dennoch suchte ich ihn überall in dem Ort und fand ihn endlich am Strand, er saß da und rauchte eine, mit sich allein, deshalb hatte er keine Zeit gehabt, und ich erwähnte mit ein paar Worten das Buch über ihn und uns beide, ein Buch, das auch in der Gegenwart spiele, während er schon aufstand und langsam davonging, sich aber noch einmal umdrehte. Er fuhr durch seine Haare, die voll und dunkel waren, und entschuldigte sich für die Rückkehr ins Leben. Und dann schlug er mir vor, diese Rückkehr in das Buch aufzunehmen – erst sei er tot, und ich könnte darüber schreiben, und im letzten Drittel tauche er wieder auf, dadurch würde es auch ein Roman. Dieses Wort sagte er mit dem üblichen Lächeln, ohne Beteiligung der Augen, die neue Zigarette in der Hand, und als er sie ansteckte in einer Kehrtwendung, um sich dann rasch zu entfernen auf dem Strand voller Seetang, wollte ich ihm den Traum erzählen, wie wir es früher manchmal getan hatten, in unserem Zweierzimmer, doch war er schon zu weit weg, in seiner alten Lederjacke mit dem hohen Kragen, und mir kam der Gedanke – bereits als Teil meines Aufwachens –, dass man nicht von Dingen reden kann, die noch andauern, schon gar nicht, wenn man selbst in den Dingen steckt, und ich folglich sitzen bliebe auf dieser Geschichte.
    Das gegenseitige Erzählen von Träumen ist eine typische Zwischenbeschäftigung von Liebenden oder sehr zugetanen Freunden; der, der zuhört, nimmt ein Stück weit am Wahn des anderen teil, um ihm letztlich beim Erwachen zu helfen. Wenn M. am Telefon mit einem Traum von uns beiden herausgerückt war, rückte auch ich mit einem Traum dieser Sorte heraus, und wir machten uns lustig über die Bilder, die jeder für sich – ich bestimmt – nicht lustig fand. Mit Deutungen hielt man sich zurück, und wenn, dann waren sie simpler Art (wir waren uns schon früh darin einig, dass den niederen Motiven mehr zu trauen sei als den höheren, die gab es allenfalls im Angesicht des Todes, bei unseren Helden aus Befreiungskriegen). Der eine glaubte sich in der Psychoanalyse auszukennen, der andere in der Neurologie, wir misstrauten einander; mein Ziel war das Verstehen, seins das Entlarven. Am Ende unserer Nacht von Ravello hatten wir auf dem Dach der Pension, mit Blick auf ein graublaues Meer in der Tiefe, gefroren und gegähnt, aber keiner wollte sich die Blöße geben, schlafen zu gehen. M. lag in einem Liegestuhl und rauchte, und ich saß auf der Brüstung, etwas kühn wie auf der Kante des offenen Fensters zehn Jahre zuvor, und las im ersten Licht in einem Buch über Semantik, das ich auf dieser Reise stets griffbereit hatte. Und als alle Zigaretten aufgeraucht waren, sagte M. plötzlich, die Neurologie werde die Semantik überflüssig machen! Damit stand er auf, um irgendwo im Ort Zigaretten zu holen, und ich tat, als würde ich
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