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Macht: Thriller (German Edition)

Macht: Thriller (German Edition)

Titel: Macht: Thriller (German Edition)
Autoren: David G.L. Weiss
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    Berlin, 20. Juli 1990
    E wald schluckte. Sein Mund war staubtrocken. Er war der jüngste und kleinste von ihnen und versuchte, mit den anderen Schritt zu halten. Sofort wischte er sich den Schweiß von der Stirn und tat unbeeindruckt. Er durfte sich seine Angst nicht anmerken lassen. Er linste zu den drei Älteren hinüber. Sie hatten nichts bemerkt. Erleichtert konzentrierte er sich auf seine Schuhspitzen.
    Berlin war wieder eins. Vor acht Monaten war die Berliner Mauer gefallen. Der »antifaschistische Schutzwall« war nach achtundzwanzig Jahren Geschichte. Die Grenztruppen der DDR waren entwaffnet. Hunderte, vielleicht sogar Tausende Mauerspechte hatten Souvenirs aus dem Beton geschlagen. Dann räumten Baumaschinen die Grenzanlagen fort. Aus den Augen, aus dem Sinn! Die Wende war endgültig da.
    Der Himmel über Berlin war pechschwarz und die vier Jugendlichen hatten den Westteil des Potsdamer Platzes betreten. Der größte und älteste der vier Burschen trug einen Rucksack. Er war um die zwanzig, hatte breite Schultern und dunkles Haar. Er blieb kurz stehen und betrachtete die Nachtschwärmer im Licht der Currywurststände. Keiner der Versammelten trug die grüne Polizeiuniform. Er lächelte zufrieden und gab einem seiner Begleiter ein Zeichen.
    Der junge Mann nickte und kletterte auf eines der Podeste, von denen noch vor wenigen Monaten Touristen über die Grenze gestaunt und nach Osten fotografiert hatten. Er spähte in die Finsternis, die sich vor ihm wie ein tiefer, weitläufiger See zwischen den Straßenlaternen ausbreitete.
    In Berlins Gesicht klaffte eine Wunde. Berlin Mitte, seit Februar ein von Baggern und Planierraupen aufgewühltes Erdloch vom Brandenburger Tor bis zum Potsdamer Platz. Eine hellbraune Geröll- und Sandwüste ohne spürbares Leben darin. Hie und da ragten verwitterte Betonbrocken aus dem ehemaligen Todesstreifen. Sie waren stumme Zeugen einer noch älteren, einer untergegangenen Zeit. Aber sie sollten ihr Schweigen brechen.
    Anstelle der abgerissenen Wachtürme, des Drahtverhaus und der Hundelaufzonen erblickte Ewald auf dem Podest ein Stahlskelett vor der schwarzen Silhouette des Reichstagsgebäudes. Die tragende Konstruktion einer Bühne, hundertsiebzig Meter lang und fünfundzwanzig Meter hoch. Er war von dem Koloss nicht überrascht. Er wusste aus den Nachrichten, morgen sollte im ehemaligen Niemandsland die Show »The Wall« von Roger Waters stattfinden. Dass die Pop-Oper des ehemaligen Pink Floyd-Sängers und Songwriters in Wahrheit nichts mit der Berliner »Wall« zu tun hatte, störte niemanden. Wenn im letzten Akt die Pappmauer auf der Bühne fiel, würde jeder an »die Mauer« denken. An die mitten durch Berlin, von der niemand die Absicht gehabt hatte, sie zu errichten.
    Ewald schmunzelte bei dem Gedanken an Walter Ulbricht und seine kreischende Stimme. Kein Mensch würde an die bekloppte Story über den fixenden Popsänger denken, dem die Grenzen um seine von den Mitmenschen isolierte Persönlichkeit eingerissen werden. Und nicht mehr lange, und beim Anblick eines Portraits vom Vorsitzenden des Staatsrats der DDR Walter Ulbricht mit seiner Brille und dem Spitzbärtchen wird jeder Deutsche sehr bald nur noch an Colonel Sanders, Kentucky Fried Chicken und die leckeren, gebratenen Hühnerflügel im Pappeimer denken. Dem Burschen lief das Wasser im Mund zusammen. Wie dem auch sei, bevor der Ringelpietz mit Anfassen hier losgeht, mussten sie ihren Plan ausgeführt haben. Heute Nacht war die letzte Chance für die jungen Entdecker, ungestört in das Gelände einzudringen. Der Bursche hob kaum merklich den Daumen und sprang vom Podest. Die Luft war rein!
    Ein Maschendrahtzaun an der Ebertstraße war schnell überwunden, und sie verschwanden in der Dunkelheit des Konzertgeländes, das nach Norden fast bis zum Brandenburger Tor reichte. Der Große mit dem Rucksack sprintete voran. Er kannte als Einziger das Ziel.
    Erde und Schotter knirschten unter ihren Sportschuhen, Staub wurde aufgewirbelt, und die vier rannten immer tiefer in die Finsternis, ohne sich nur einmal nach den Lichtern in ihrem Rücken umzudrehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Rennens durch das Herz der Berliner Nacht blieben sie keuchend und schwitzend stehen.
    Der Langsamste der Truppe strauchelte bei dem abrupten Stopp. Die zwei anderen stützten ihre Hände in die Knie, ließen die Köpfe vornüber hängen und atmeten schwer.
    Der junge Mann mit dem Rucksack stellte sich breitbeinig vor sie hin, wischte
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