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Eros und Asche

Eros und Asche

Titel: Eros und Asche
Autoren: Bodo Kirchhoff
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sei damals schon klar gewesen, dass die Neurologie den Menschen nicht retten werde, aber besser, der Arzt, der nichts ausrichten kann, als der Retter, der so tut – ein Ethos des Scheiterns. Und dann wechselte er scheinbar das Thema und kam auf einen Hundehalter, mit dem er in letzter Zeit öfter in einem Stehcafé geredet habe: philosophischer Kopf, der nur für die Schublade oder Festplatte schreibe, verschroben, brillant, von unberechenbarer Freundlichkeit (Letzteres wie er selbst). M. klang schon etwas müde, das Sprechen strengte ihn an, aber er schwärmte von diesem getarnten Schopenhauer mit Hund, einem alten Spaniel, so, wie er morgens in Ravello von seinem Neurophilosophen geschwärmt hatte, und mir wurde klar – oder wird es mir erst jetzt im Zuge des Schreibens klar? –, was ich an ihm geliebt habe und immer noch liebe. Er gehörte zu den wenigen, die ihr Leben vollständig auf eigene Art leben und es auch vollständig so erzählen.
    Kauf eines teuren Augenvitamins, Lutein, Tipp einer schwermütigen Frau, die mir gelegentlich auf der Straße begegnet, früher Fotografin (sie hat vor vielen Jahren das Autorenfoto für ein Buch gemacht, ein Foto, das neben dem Inhalt, der Geschichte eines Journalisten und eines jungen Soldaten, zu Missverständnissen über die Sexualität des Autors geführt hatte). Und in der nahen Familienwohnung, Morgenstern-Straße, wird gleich eine der Vitaminkapseln mit Wasser geschluckt; der Sohn spielt in seinem Zimmer Gothic 3 , ist aber ansprechbar, und wir reden über ein Skript, an dem er sitzt. Er macht Filme mit seinen Freunden, es geht darin blutig zu, die Intelligenz liegt in den Bildern, nicht in der Geschichte; nebenbei lernt er für eine Arbeit über die Weimarer Republik und geht auch noch das Abendprogramm im Bezahlfernsehen durch, ob da ein Film für uns dabei wäre. Oder bist du schon blind?, fragt er beim Abschießen eines Ritters zweiter Klasse, eine Frage, die auch M. hätte stellen können (leider haben sich Freund und Sohn nie kennengelernt, ein unverzeihliches Versäumnis). Und wieder einmal ein Anlauf des Vaters, von M. zu erzählen, und einmal mehr das müde bis schroffe Abwinken.
    Je mehr und klarer man die Abwesenheit des anderen ausspricht, je öfter und deutlicher man dessen Fehlen beklagt und sich mit dem Abwesenden befasst, desto mehr bringt man die weibliche Seite in sich zum Vorschein. Der sehnende Mann ist der verwandelte Mann, auf eine für Außenstehende unter Umständen unheimliche Weise feminisiert, als Teil einer Eucharistie, bei der Brot und Wein zu Erinnerungen an den Freundesleib werden. Und ein Vater, der sich so verhält, vom Freund erzählen möchte, macht sich verdächtig, jedenfalls für einen Sohn, der es nicht gewohnt ist, Romane zu lesen, die ja immer, wenn sie uns weiterbringen, eine Beschwörung des Abwesenden sind, ein Sieg des Weiblichen (mit den Mitteln des Männlichen: das Buch in Angriff nehmen, durchstehen, dafür trommeln usw.).
    In der Wohnung neben meiner wieder der Lärm von den Schülern des sogenannten Sprachcafés im Haus; im Flur ein Kommen und Gehen, das der Nachbar spät abends durch den Spion verfolgt. Die fremden Jungs haben alle etwas Träges, Überfüttertes, besonders die Chinesen, während die Mädchen aus Spanien oder Osteuropa vor Neugier auf alles Deutsche – zu dem nur nicht ihr Nachbar zählt – geradezu brennen. Wieder einmal muss ich die Tür öffnen und als mürrischer Alter in drei Sprachen Ruhe brüllen. Und eine der jungen Frauen antwortet auf russisch, nicht eben freundlich im Ton, um dann in der Sprache, deretwegen sie hier ist, etwas ganz anderes zu sagen: Tut mir leid – aber was, kann man sich fragen. Tut es ihr leid, den Nachbarn geweckt zu haben oder am Schlaf zu hindern? Oder tut es ihr leid, wie er da als Typ im gestreiften Bademantel, das graue Haar zerzaust, barfuß im Flur steht und womöglich nicht nur seine Ruhe will, sondern auch oder lieber noch einen Anteil am Leben in der Sprachschülerwohnung? Tut es ihr am Ende also eher leid, auch einen solchen Wunsch geweckt zu haben?
    Der Zerzauste geht auf jeden Fall wieder ins Bett, nur ist er jetzt hellwach. Die Worte der jungen Russin haben etwas in ihm aufgestöbert: die Panik, die ein anderer Kurzsatz beim ersten Hören in mir ausgelöst hatte, auch nur aus drei Worten bestehend und auch nur von Bedeutung, wenn er gesagt wird, ohne etwas anderes als das Gesagte zu meinen, und genau in dieser Beschränktheit so alarmierend, besonders
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