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Das Jesusfragment

Das Jesusfragment

Titel: Das Jesusfragment
Autoren: Henri Loevenbruck
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Prolog
    D er Nachtwind wehte über die Kreidefelsen der Wüste von Judäa. Sein heftiges Raunen kündigte die heraufziehende Dämmerung an, die Stunde, in der die ersten Geier lautlos über den Gipfeln Palästinas zu kreisen beginnen.
    Im Osten spiegelten sich die Sterne eines aschfarbenen Himmels im öligen Wasser des Toten Meeres wider, das von großen Salzdünen umgeben war. Hier lag der tiefste Punkt der Erde. Der Wind wehte über die weißen Dünen, durch gewundene Täler, über Beduinenzelte hinauf zu den höchsten Wänden der Canons.
    Nur wenige Kilometer von Jerusalem und doch unendlich weit von der Welt entfernt, verbarg sich im Schutz hoch aufragender Gipfel ein altes Kloster, das sich wie ein grauer Steinblock an die Felswand schmiegte. Es war ein schmuckloses Gebäude mit kleinen Fenstern. Keine Straße, kein Weg hätte den unvorsichtigen Reisenden hierher führen können, denn nichts schien dieses unzugängliche Bauwerk mit dem Rest der Welt zu verbinden. Ein paar Steinböcke zupften an den kargen Grünflächen, die das Gebäude umgaben, kletterten seine breiten verwitterten Stufen hinauf, die in den gelblichen Fels gehauen waren. Eine Seilwinde aus knarrendem Holz baumelte an der Fassade herab, und im ersten Stock flackerte hinter einem Fenster das Licht einer Kerze. Dort betete in einem kleinen, spärlich möblierten Zimmer ein alter, barhäuptiger Mann, der eine weiße Leinenkutte trug. Er hatte die Augen geschlossen, kniete vor dem Fenster und sprach sein Gebet. Sein langer, grauer Bart bewegte sich im Rhythmus seiner Verbeugungen, und der Klang seiner monotonen Stimme war kaum zu hören.
    Als er sein Gebet beendet hatte, erhob sich der Mönch langsam und begab sich in eine Ecke des Zimmers, wo ein großes Waschbecken aus der Wand ragte. Es war mit kaltem Wasser gefüllt. Der alte Mann tauchte seine Hände hinein, benetzte seine Stirn, sein Gesicht und dann seine Füße, während er erneut betete. Er war barfuß – als Zeichen seiner Verbundenheit mit der Erde. Denn an diesem Ort wurde die Erde als heiliges und lebendiges Wesen verehrt.
    Schließlich kehrte er zurück zu seiner bescheidenen Lagerstatt, einer Decke, die er auf dem Boden ausgebreitet hatte. Er legte sich auf den Rücken und lauschte noch einen Moment auf seine Umgebung, bevor er die Augen schloss. Die übrigen zwölf Mönche, die in diesem vergessenen Kloster lebten, schliefen noch. Zwar waren die altehrwürdigen Mauern von andächtiger Stille erfüllt, doch von draußen drangen die Geräusche der Nacht in die Zelle des alten Mannes. Er ließ seine Gedanken in das nächtliche Raunen entschwinden und wartete ruhig atmend, bis der Schlaf ihn übermannte.
    Er war ein gerechter und weiser Mann, der sein Leben der Gemeinschaft des Klosters gewidmet hatte und wie seine Brüder die Erfüllung des Neuen Testaments erwartete. Mit dreizehn Jahren war er in das Kloster eingetreten und hatte es seither nicht wieder verlassen. Wie seine Brüder hielt er sich streng an die Ordensregeln und ernährte sich lediglich von Brot, Wasser und den Früchten der Natur. Und wie seine Brüder strebte auch er nach Reinheit und Demut und verbrachte den Tag mit Beten, der Arbeit in den Klostergärten und handwerklichen Dingen. Wie seine Brüder hatte er seit langer Zeit vergessen, dass jenseits seiner Wirklichkeit eine andere Welt existierte. Hatte seine Eltern, seine Familie, Jerusalem und das, was die Menschen daraus gemacht hatten, vergessen. Gott allein bestimmte sein Leben. Gott und sein letztes Geheimnis.
    Plötzlich schien die Nacht zu schweigen, als sei sie erstickt. Das Geheul der Schakale verstummte mit einem Schlag, nur die Geier kreisten noch lautlos am Himmel über dem Kloster.
    Der Mönch öffnete die Augen und richtete sich langsam auf. Er lauschte. Um ihn herum herrschte tiefe Stille. Alle nächtlichen Geräusche waren verstummt, und nur das Rauschen des Windes war zu hören. Eine Situation, die äußerst selten und ungewöhnlich war.
    Mit einem Mal zerriss der ohrenbetäubende Lärm einer gewaltigen Explosion, wie das Kreischen einer verstimmten Orgel, die nächtliche Stille. Die Wände und der Boden des Klosters erbebten, und gleißendes weißes Licht leuchtete vor den Fenstern auf.
    Rasch erhob sich der alte Mann und rannte zur Tür. Als er auf den langen Gang trat, der die Klostergärten überragte, sah er voller Entsetzen, wie lodernde Flammen über die Mauern drangen. Dann ertönten weitere Explosionen, und ihr ohrenbetäubendes Echo schien
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