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Das Jesusfragment

Das Jesusfragment

Titel: Das Jesusfragment
Autoren: Henri Loevenbruck
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rauszuwerfen – das war immer noch besser, als das Geld meiner Exfrau zu geben. Aber in dieser Stadt, in der ich meine Wurzeln hatte, die mich als hilflosen Jungen oder verliebten jungen Mann erlebt hatte, empfand ich eine Art Unbehagen, in einem Hotel abzusteigen, in dem ich mir vor elf Jahren nicht einmal ein Frühstück hätte leisten können, ohne meinen alten Herrn um ein Taschengeld bitten zu müssen, was ich am allerwenigsten wollte.
    Ich ließ meinen Koffer rasch auf das Zimmer bringen, warf einen amüsierten Blick in das pompös eingerichtete Zimmer – Goldverzierungen, Holztäfelungen und Drapierungen aller Art – und verließ das Hotel, um mich zum Notar zu begeben. Auch wenn ich das Treffen lieber vermieden hätte, wollte ich die Angelegenheit doch so schnell wie möglich hinter mich bringen.
    Die Anwaltskanzlei Paillet-Laffite befand sich in einem alten Gebäude in der Rue Saint-Honoré. Mit dem graublauen, abgerundeten Schieferdach, der Fassade aus weißem, vom Straßenverkehr verschmutztem Stein, den großen Glastüren und dem Aufzug, der in ein viel zu enges Treppenhaus gezwängt war, war es ein Pariser Wohnhaus par excellence. Rechtsanwalt Paillet war der Notar unserer Familie, der Anwalt meines Vaters und meines Großvaters, aber ich hatte ihn erst einmal und unter wenig erfreulichen Umständen gesehen: am Tag, als meine Mutter auf dem Friedhof von Montparnasse beerdigt wurde. Neben den meisten Freunden der Familie hatte auch unser Anwalt an der Beerdigung teilgenommen und voller Entsetzen festgestellt, dass ich allein am Grab stand. Mein Scheißkerl von einem Vater hatte es nicht für nötig gehalten, zu erscheinen.
    »Nehmen Sie bitte Platz, Monsieur Paillet empfängt Sie sofort.«
    Ich hatte das magische Knarzen der alten Pariser Parkettböden vergessen. In New York gab es kein einziges Apartment, in dem der Boden so altmodisch knarrte. Als ich durch die Tür trat, die mir die rundliche Sekretärin lächelnd aufhielt, musste ich unwillkürlich an das Wartezimmer der Zahnarztpraxis denken, in dem ich als Kind viele Stunden verbracht hatte. Halb tot vor Angst hatte ich vor Zeitschriften wie Madame Figaro, Paris Match und anderen bekannten Magazinen gehockt und von nebenan die durchdringenden Geräusche des Bohrers gehört. Aber der Notar ließ mich nicht lange warten. Bald saß ich vor seinem großen Ministerschreibtisch und bewunderte den Dali-Druck an der Wand. Das Bild zeigte einen totenblassen Jesus, der am Kreuz darauf zu warten schien, dass Martin Scorcese vorbeikam, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.
    »Guten Tag, Monsieur Louvel, ich danke Ihnen, dass Sie so schnell gekommen sind.«
    Monsieur Paillet legte beide Hände auf den Aktendeckel vor sich.
    »Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen indiskret erscheine«, fuhr er fort, »aber wie lange hatten Sie Ihren Vater nicht mehr gesehen?«
    Ich wandte den Blick von dem Bild ab, das über seinen Besitzer zu wachen schien, und lächelte den Notar an. Er war ein kleiner beleibter Herr mit gebräunter Haut und vielen Falten. Mit seinem kurzen, dichten schwarzen Haar und den tief liegenden Augen könnte er Korse sein, sein diskretes Taktgefühl war eher englisch. Er musste die Sechzig bereits überschritten haben, aber er sah nicht älter als fünfzig aus. Er gehörte zu jener Art von Männern, die in einem bestimmten Alter, entsetzt über ihre zunehmende Leibesfülle, den Scotch beiseite stellen und nach dem Perrier mit der Zitronenscheibe greifen. Ich konnte ihn mir gut vorstellen, wie er in Saint-Nom-la-Bretèche Golf oder Hallentennis spielte. Und ich stellte mir auch vor, wie er als Opfer eines Herzanfalls starb, mit dem Kopf auf dem gestampften Lehmboden aufschlug, ängstlich beobachtet von seinem Freund, natürlich auch ein Anwalt, der ihn zu schnell über den Platz gejagt hatte.
    »Seit elf Jahren. Nach der Beerdigung meiner Mutter habe ich ihn noch ein einziges Mal gesehen. Mir fehlte damals der Mut, ihm gehörig die Schnauze zu polieren, und so bin ich einfach in die Vereinigten Staaten verschwunden.«
    Der Notar schüttelte den Kopf und tat so, als habe er meine letzte Bemerkung nicht gehört.
    »Sie sind der einzige Erbe, sein letzter Angehöriger.«
    Er sprach schnell. Als hätte er die Szene bereits zehnmal in seinem Kopf geprobt.
    »… aber Sie brauchen sich um nichts zu kümmern. Ihr Vater hat alles für die Beerdigung geregelt; für Sie gibt es lediglich ein paar Papiere zu unterschreiben.«
    »Umso besser.«
    »Dann wäre
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