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Das Jesusfragment

Das Jesusfragment

Titel: Das Jesusfragment
Autoren: Henri Loevenbruck
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nicht aufhören zu wollen. Ganze Steinblöcke lösten sich von der Decke und den Wänden und zerbarsten auf dem Gang und in den darunter liegenden Gärten. Der alte Mann wusste nicht, was er tun oder in welche Richtung er laufen sollte. Wo konnte er in dieser unbegreiflichen Katastrophe Zuflucht finden? Einige Mönche kamen aus ihren Zellen gestürmt, und ihre Gesichter waren wie das seine von Angst gezeichnet. Keiner von ihnen konnte sich die Ursache dieser plötzlichen Apokalypse erklären.
    Schon bald wallte dichter Rauch bis in den ersten Stock hinauf und hüllte schließlich das ganze Gebäude ein.
    Der alte Mönch hustete, um das scharfe Brennen in seiner Kehle zu vertreiben. Dann versuchte er in seiner Panik, die Treppe in das Erdgeschoss zu erreichen. Gebückt tastete er sich an dem Steingeländer entlang und bahnte sich einen Weg durch die infernalischen Flammen und den Rauch. In der Mitte des Gangs sah er plötzlich, wie einer seiner Mitbrüder direkt vor ihm wie vom Blitz getroffen zusammenbrach. Es war der jüngste Mönch, der zuletzt dem Orden beigetreten war.
    Mit zitternden Händen und Tränen in den Augen beugte sich der alte Mann über den leblosen Körper seines Bruders, dessen weißes Gewand mit langen Blutspuren befleckt war.
    Die Luft wurde immer stickiger, und die Hitze der Flammen brannte auf seinen Wangen. Doch statt weiter nach einem Fluchtweg zu suchen, ließ sich der alte Mann auf die Knie fallen. Es gab jetzt keinen Zweifel mehr. Er würde dieser Hölle niemals lebend entkommen. Der Tod tobte überall um ihn herum und würde ihn schon bald überwältigen.
    Er nahm die Hand seines toten Bruders und schloss die Augen. Nur ein einziger Gedanke beherrschte ihn in diesem Augenblick. Hatte er im Schoße seiner Gemeinschaft die höchste Stufe der Reinheit erlangt, jetzt, da er in die Ewigkeit abberufen wurde?
    In den Tiefen seiner Seele hütete er ein Geheimnis. Ein nie geteiltes Geheimnis. Der Mönch betete darum, dass Gott ihn in sein Königreich aufnehmen möge. Plötzlich spürte er, wie ein scharfes Stechen seine Brust durchzuckte. Dann umhüllten die Flammen seinen reglosen Körper und es gelang ihm, zu lächeln, während er starb.
    Als der Lärm kurz darauf verebbte, verließen zehn dunkle Gestalten rasch und geräuschlos das brennende Kloster. Zehn maskierte Männer. Sie trugen etwa fünfzig Kilo Ausrüstung bei sich: modifizierte MF-5-Maschinenpistolen, Laserzielsysteme, einen numerischen Kompass, GPS, Kevlar-Overalls.
    Der Einsatz war minutiös konzipiert und vorbereitet worden, und jeder der Männer hatte genau gewusst, was zu tun war. Der Grundriss des Gebäudes war als digitales 3-D-Bild auf den kleinen Displays ihrer Waffen angezeigt worden, und so hatte der Überfall nur wenige Minuten gedauert. Rasch war ein blinkender roter Punkt nach dem anderen auf den Displays erloschen. Die meisten Mönche waren im Schlaf getötet worden. Keiner hatte Alarm schlagen können. Keiner hatte überlebt.
    Als die zehn Söldner die Flammen hinter sich ließen und den ockergelben Abhang des Berges hinunterstiegen, trugen sie einen Schatz bei sich, dessen Bedeutung sie nicht einmal ahnen konnten.
    Ich bin der Dunkle – der Witwer –, der Trostlose,
Der Prinz von Aquitaine mit gefall'nem Turm:
Mein hoher Stern ist tot; meine übersäte Laute
Trägt die schwarze Sonne der Melancholie.
    Gérard de Nerval
El Desdichado

Eins
    I ch hatte meinen Vater seit elf Jahren nicht gesehen, als der Notar mich anrief, um mir mitzuteilen, dass er gestorben sei.
    In solchen Augenblicken ist es schwer, die richtigen Worte zu finden, und ich spürte, dass der arme Kerl am anderen Ende der Leitung verlegener war als ich. Die Stille, die zwischen uns lag, hatte nichts mit der verzögerten Sprachübertragung zwischen Paris und New York zu tun, auch nicht damit, dass ich seit vier oder fünf Jahren kein Wort Französisch mehr gesprochen hatte. Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Seit elf Jahren lebte ich bereits in New York, sieben davon war ich als Drehbuchautor für das Fernsehen tätig, und seither fielen die einheimischen Produzenten reihenweise in Ohnmacht vor dem french touch , den ich dem Saturday Night Live verliehen hatte. Allein meine Serie Sex Bot war seit drei Jahren ein Renner bei HBO, weil die Zuschauer es ungewöhnlich fanden, dass im Fernsehen so offen über Sex gesprochen wurde. Vor einem Jahr hatte ich aufgehört, den desillusionierten Millionär zu spielen, der seine Dollars für Koks und
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