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Das Jesusfragment

Das Jesusfragment

Titel: Das Jesusfragment
Autoren: Henri Loevenbruck
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sein Verhältnis zu meinem Vater entwickelt hatte, aber ich sah in seinen Augen, dass er die erbärmliche Beerdigung meiner Mutter nicht vergessen hatte.
    Er reichte mir die Schlüssel und eine Akte.
    »Das sind die Schlüssel für die Wohnung, diese sind für das Haus, und diese für den Peugeot 406, der hier in Paris in der Tiefgarage steht, Platz 114. In Gordes hatte Ihr Vater ebenfalls ein Auto, aber das ist auf dem Schrottplatz. Ich weiß nicht genau, wofür die übrigen Schlüssel sind, aber Sie werden es bestimmt herausfinden. Und wenn Sie Zeit haben, sollten Sie diese Unterlagen durchsehen und unterschreiben.«
    Ich erhob mich und gab ihm die Hand.
    »Muss ich nichts mehr für die Beerdigung erledigen?«
    »Nein, nein, ich kümmere mich darum, Ihr Vater hat bereits alles geregelt. Aber vielleicht sollten Sie einige Bekannte benachrichtigen.«
    Ich nickte, fragte ich mich aber insgeheim, wen ich wohl benachrichtigen sollte.
    Der Alte war allein gestorben, er würde allein begraben werden. Und falls ich Tränen vergießen sollte, dann würden sie meiner Mutter gelten, an die ich immer wieder denken musste.
    *
    Meine Eltern waren nach meiner Geburt nicht umgezogen, sondern hatten ihre teure, moderne Fünfzimmerwohnung in der Rue de Sèvres behalten, von der aus mein Vater zu Fuß zur Place de Fontenoy gehen konnte. Dort hatte er bei der UNESCO einen hohen Posten in der Verwaltung inne.
    Mein Vater war ein seltsamer Mensch gewesen. Wenn man ihn nicht näher kannte, schien er sehr sympathisch zu sein, aufmerksam, feinfühlig und kultiviert. Ein aufgeschlossener Bücher- und Kunstliebhaber, ein Intellektueller, der in den Salons über Montaigne oder Chagall plauderte. Man stellte ihm tausend Fragen und man stellte ihn stolz den eigenen Freunden vor: Und darüber hinaus findet Monsieur Louvel noch Zeit, bei der UNESCO zu arbeiten. Er war eine sehr große, sehr elegante Erscheinung, und mit den grauen Schläfen und den Lachfalten schien er den Charme der Fünfziger gepachtet zu haben. Dazu hatte er stets eine Hand mit der Lässigkeit eines Dandys in die Hosentasche gesteckt. Die Leute vergötterten ihn.
    In Wirklichkeit war mein Vater aber ein echter Scheißkerl. Ich hatte ihn viele Hände schütteln gesehen, aber kein einziges Mal hatte ich erlebt, dass er seine Frau umarmte, oder gar seinen Sohn. Wenn sich unsere Tür hinter dem letzten Gast geschlossen hatte, verschwand mein Vater in seinem Büro, und man hörte erst wieder beim nächsten Empfang von ihm. Als ob dieser Mann sein Leben lang bedauerte, nicht nur geheiratet, sondern, schlimmer noch, sogar ein Kind gezeugt zu haben. Wenn man dieses Kind ist, fällt es besonders schwer, dies zu akzeptieren.
    Ich erinnere mich daran, wie ich einmal das Gespräch von zweien meiner Freunde mitbekam. Der eine hatte einen intellektuellen Vater, der Sport hasste, der andere einen sportlichen Vater, der die Intellektuellen hasste. Ergebnis: Meine beiden Freunde beneideten den jeweils anderen um seinen Vater. Ich hatte weder das eine noch das andere. Mein Vater hatte nichts zu teilen. Sogar seine Liebe zu schönen Büchern und Bildern behielt er für sich. Er bewahrte sie in hohen Regalen auf, die ich nicht erreichen konnte. Mein Vater und ich pflegten keine Beziehung miteinander. Weder liebten wir uns, noch stritten wir. Da war einfach nichts.
    Doch erst als die Ärzte meiner Mutter erklärten, dass sie Krebs habe, begriff ich, was für ein Dreckskerl ihr Mann wirklich war.
    Meine Mutter hingegen war das genaue Gegenteil von ihm. Ich habe nie wirklich verstanden, weshalb die beiden geheiratet haben. Zweifellos war dies eine Versorgungsehe. Mein Vater wollte eine Hausfrau und meine Mutter einen Mann mit Bankkonto. Ich könnte höchstens meiner Mutter vorwerfen, dass sie es nie gewagt hatte, weder mir noch ihrem Mann gegenüber, die Stimme zu erheben. Sie war eine großzügige Dame, sanft und zärtlich. Eine schöne, elegante Frau mit wundervollen Augen und einem erlesenen Geschmack, die einer bürgerlichen Familie aus der Gegend von Bordeaux entstammte. Meine Mutter hatte auf vieles verzichten müssen, als sie meinen Vater heiratete, und ich glaube, dass sie ihr Leben lang bedauerte, die Provinz verlassen zu haben. Nicht, dass sie ihre Gefühle jemals ihrem Ehemann gestanden hätte. Nach der dritten Fehlgeburt glaubte ihr Arzt, dass Paris nicht die ideale Umgebung für sie sei. Dennoch kam ich im Jahr darauf zur Welt. Und ich glaube, je größer die Freude meiner Mutter war,
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