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Das Jesusfragment

Das Jesusfragment

Titel: Das Jesusfragment
Autoren: Henri Loevenbruck
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Wohnung in Augenschein genommen, um festzustellen, dass kein einziges Buch mehr vorhanden war. Das war umso erstaunlicher als nichts anderes fehlte.
    Ich schüttelte den Kopf, um meine Gedanken zu ordnen. War man in die Wohnung eingebrochen? Doch es gab keine Spur eines unbefugten Zutritts. Hatte mein bibliophiler Vater beschlossen, alle Bücher mit in den Süden zu nehmen? Sicher, das war möglich, aber in dieser Radikalität schon merkwürdig. Und warum hätte er alle Bücher mitnehmen sollen, aber kein einziges Gemälde? Er hätte sich damit begnügen können, eine Auswahl zu treffen, er hätte zum Beispiel die Bücher mitnehmen können, die er noch nicht gelesen hatte. Viele Menschen nahmen sich vor, den Ruhestand abzuwarten, um dann, später, reihenweise die Bücher zu lesen, die ihre Regale füllten. Man hatte sogar ein Wort dafür erfunden: das Büchergrab. Aber deshalb alle mitzunehmen? Nein, das war wirklich sehr merkwürdig.
    Ich beschloss, den Notar anzurufen, und während ich seine Nummer wählte, begab ich mich in die Küche, um mir einen Whisky einzuschenken. Einen kleinen Whisky.
    »Hallo? Monsieur Paillet? Damien Louvel am Apparat. Ich rufe Sie aus der Wohnung meines Vaters an …«
    Im Küchenschrank fand ich noch eine Flasche O'Ban, die Lieblingsmarke meines Vaters. Seine Vorliebe für Whisky war eines der wenigen Dinge, die wir teilten.
    »Alles in Ordnung?«, erkundigte sich der Notar besorgt am anderen Ende der Leitung.
    »Ja. Aber wissen Sie, wo die Bücher meines Vaters hingekommen sind?«
    »Aber ja, ich hätte es Ihnen wirklich gleich sagen sollen. Vor zwei Jahren hat er sie verkauft, um das Haus in Gordes zu bezahlen. Es ist mir zwar gelungen, ihn davon abzubringen, seine Gemälde zu verkaufen, aber nicht die Bücher …«
    »Er hat alle Bücher verkauft?«, fragte ich verwundert und verschloss die Whiskyflasche.
    »Die ganze Sammlung. An einen Sammler aus Amiens.«
    »Und das hat gereicht, um das Haus in Gordes zu bezahlen?«
    »Nein, natürlich nicht. Ich glaube mich zu erinnern, dass er ungefähr sechshunderttausend Francs dafür bekommen hat. Deswegen wollte er ja sogar ein paar Bilder verkaufen. Aber ich habe ihn schließlich davon überzeugt, lieber seine Aktien zu verkaufen …«
    »Ich denke, das haben Sie gut gemacht. Aber ich bin sehr erstaunt. Er hing so an seinen Büchern! Er musste dieses Haus ja unbedingt gewollt haben.«
    Der Notar antwortete nicht. Ich dankte ihm und legte auf.
    Ich blieb fast eine Stunde im Wohnzimmer und starrte auf die leeren Regale, saß auf dem Sofa, das Whiskyglas in der Hand. Hätte es eine Fernbedienung gegeben, hätte ich zweifellos den Fernseher eingeschaltet, hätte wie ein Blöder von Sender zu Sender gezappt, um mich den wechselnden farbigen Bildern der verschiedenen Kanäle zu überlassen. Aber nun saß ich reglos da, und die Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf. Warum hatte ich das sichere Gefühl, dass etwas nicht stimmte? Lag es einfach daran, dass ich ein Fremder geworden war, dass es mir schwer fiel zuzugeben, wie weit meine Familienangelegenheiten mir entglitten waren? Das Haus im Süden, der Unfall um zwei Uhr morgens, die Bibliothek. Es gelang mir nicht, die Dinge auf den Punkt zu bringen, und ich konnte meine wechselnde Stimmung kaum beherrschen. Einmal übermannte mich der Zorn, dann wieder die Nostalgie, dann vermischte der Whisky alles miteinander, und mein Stolz, vor allem mein Stolz, weigerte sich zuzugeben, dass der Tod meines Vaters mich in irgendeiner Weise berühren könnte. Die Situation erinnerte an einen schlechten Fortsetzungsroman. In dem ein Sohn bedauert, nicht die Zeit gehabt zu haben, sich mit seinem Vater zu versöhnen. Nur – ich bedauerte nichts. Ich war lediglich traurig und hilflos. Und vor allem war ich allein. Zum ersten Mal richtig allein. Keine Lust zu haben, seinen Vater wiederzusehen, ist das eine, seinen Vater nicht wiedersehen zu können, ist etwas ganz anderes.
    Plötzlich riss mich das Klingeln meines Handys aus meiner Erstarrung, und ich stand auf, um das Telefon aus meiner Hosentasche zu holen.
    »Hallo?«
    Ich erkannte sofort die Stimme von Dave Munsen, meinem Agenten. Seit dem Erfolg von Sex Bot hatte mir die Stephen D. Aldrich Artists Agency diesen Typen an den Hals gehängt, und der arme Kerl tat alles, um mir eine Freude zu bereiten, konnte aber nie seine Angst verbergen, die sicherlich nur eine schwache Version der Angst seiner Vorgesetzten war: Ich war im Augenblick ihre
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