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Das Jesusfragment

Das Jesusfragment

Titel: Das Jesusfragment
Autoren: Henri Loevenbruck
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Haupteinnahmequelle, und wenn ich eines Tages die Agentur wechseln würde, müssten sie schließen und alle Leute vor die Tür setzen, die sie in letzter Zeit eingestellt hatten. Sie fassten mich also mit Samthandschuhen an und entwickelten sich zu Meistern in der Kunst der Schmeichelei. Sie konnten nicht wissen, dass ich nicht die geringste Absicht hegte, sie zu verlassen, aber ich muss gestehen, dass ich ihre Lage gern ausnutzte und sie herumscheuchte, wobei ich immer so tat, als zweifelte ich an ihnen. Ich amüsierte mich wie ein kleines Kind über Daves schwache Nerven, klar, es war ein grausames Spielchen, aber ich hoffte, dass der gute Mann es schließlich kapieren würde. Und im Grunde genommen dürfte ihnen ihr Anteil an den Rechten von Sex Bot das Ganze erträglicher machen.
    »Alles in Ordnung, Damien?«
    Schon seit zwei Jahren bemühte sich Dave nach Kräften, meinen Vornamen französisch auszusprechen, aber ich musste trotzdem jedes Mal lachen, wenn er mich ansprach.
    »Ja, Daaaaave, alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen.«
    »Wie ist das Hotel?«
    »Immerhin, es ist das Ritz.«
    »Na ja, ich kenne es nicht wirklich. Du weißt ja, dass ich noch nie in Frankreich gewesen bin. Übrigens habe ich gestern vergessen, dir zu sagen, dass wir in Paris eine Agentur haben, die uns vertritt. Wenn du irgendetwas brauchen solltest, werden sie dir bestimmt helfen können. Es ist keine sehr große Agentur, die Franzosen haben keine großen Agenturen, aber die Leute dort sind reizend.«
    »Ich weiß, Dave, ich bin Franzose. Erinnerst du dich?«
    »Ja, ja, natürlich. Möchtest du ihre Nummer?«
    »Nein, nein, ich komme zurecht, ich danke dir. Ich hätte aber gern ein Motorrad.«
    »Möchtest du denn kein Taxi nehmen?«, wunderte er sich.
    »In Paris ja, aber ich werde eine längere Fahrt machen.«
    Ich erriet an dem Schweigen, das folgte, was er dachte. Dave und sicherlich das ganze Team Aldrich fürchteten, dass mein Aufenthalt in Frankreich sich verzögerte. Ich war mit den letzten Drehbüchern für die dritte Staffel von Sex Bot bereits seit zwei Wochen in Verzug, und die Produktion rief sicherlich täglich bei der Agentur an, um ihre wachsende Ungeduld zu bekunden. Warum ist dieser verdammte Franzose immer in Verzug? Die Drehbücher waren längst fertig, meine Produzenten hatten eine Armee von Drehbuchautoren, story editors und script doctors engagiert, aber ich musste immer noch alles durchsehen und mit meiner Unterschrift die letzte Zustimmung geben.
    »Wo … wohin fährst du?«, stammelte Dave.
    »Ich fahre nach Südfrankreich.«
    »Wie bitte?«
    »Ich fahre nach Gordes, in die Provence. Mein Vater hatte dort ein Haus gekauft, und ich muss da ein paar Dinge regeln.«
    »Und bleibst du lange?«
    »Ich weiß nicht.«
    Ich sah Dave vor mir, der den Hörer umklammerte.
    »Aber – aber die deadline , Damien?«
    »Ich habe gerade meinen Vater verloren, Dave«, erwiderte ich und tat so, als sei ich davon getroffen.
    Konnte ich noch grausamer sein? Der arme Junge schwieg. Ich beschloss, ihn von seiner Angst zu erlösen.
    »Hör mal, dort unten habe ich meine Ruhe und kann in dem Haus meine Arbeit beenden. Macht euch in der Agentur keine Sorgen. Ich schicke die Endfassung der Drehbücher in den nächsten Tagen per E-Mail.«
    Ich legte lächelnd auf und betrachtete mich im großen Spiegel des Wohnzimmers. Ich versuchte, die Züge meines Vaters in meinem Gesicht zu erkennen. Seine Augen, seinen Mund. Aber alles, was ich sah, war ein Dreitagebart, Augenringe und Wirbel in meinem dichten dunklen Haar. Ein anderes, irreales Ich, das ich seit langem nicht mehr gesehen hatte und das überhaupt keine Lust hatte, idiotische New Yorker Geschichten zu schreiben.
    Ich beschloss, die Zeit in Paris zu nutzen, durch die engen Gassen zu streifen und bis zur Neige die beiden Gesichter von Paris auszukosten: das edle geschichtsträchtige bei Tage, das snobistische und sinnliche bei Nacht.
    Ich schlenderte vom Musée d'Orsay zum Louvre, genoss den Luxus des Dodin Bouffant und den Tartar der Brasserien, bewunderte die Geduld der Taxifahrer im chaotischen Straßenverkehr, lächelte auf der Champs-Elysées den langbeinigen Pariserinnen zu, schenkte den Sängern in der Metro ein paar Münzen, tauchte ein in die dröhnende Elektromusik der Nachtclubs, trank ein paar Gläser zu viel und verbrachte die Nacht mit einer Engländerin. Obwohl ich mich nicht mehr daran erinnern konnte, sie zu mir eingeladen zu haben, entdeckte ich im Morgengrauen
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