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Das Jesusfragment

Das Jesusfragment

Titel: Das Jesusfragment
Autoren: Henri Loevenbruck
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desto mehr wuchs die Bestürzung meines Vaters.
    Jede ihrer Gesten, jede ihrer Aufmerksamkeiten war eine Entschuldigung für seinen Egoismus, als wollte sie mich für ihn entschädigen.
    Ich habe meine Mutter immer vergöttert. Habe vier Monate an ihrer Seite im Krankenhaus verbracht. Vier Monate, in denen wir die Rollen getauscht hatten. Ich habe die grausame Abwesenheit meines Vaters ausgeglichen und gelernt zu lächeln, wenn mir nicht danach zumute war. Jedes Mal, wenn hinter mir die Tür ihres Klinikzimmers geöffnet wurde, sah ich, wie Hoffnung in ihren Augen aufblitzte. Aber nie war es mein Vater, der eintrat. Also lächelte sie dem Besucher, dem Arzt, der Krankenschwester zu, doch ihre Augen verrieten alles andere als Heiterkeit.
    Ich habe nie die Worte gefunden, die ihr geholfen hätten, ihn zu vergessen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es diese Worte überhaupt gibt. Manchmal frage ich mich, woher ich die Kraft genommen habe, sie ganz allein bis zum Ende zu begleiten. Doch damals stellte sich mir diese Frage einfach nicht.
    Heute glaube ich zu wissen, woraus ich meine Kraft schöpfte. Aus dem Hass. Dem Hass, der sich gegen meinen Vater richtete. Wahrscheinlich war es sogar eine glückliche Fügung, dass er nicht zu ihrer Beerdigung gekommen ist. Es hätte übel für ihn ausgehen können …
    Doch statt mich an ihm zu rächen, bin ich nach New York geflogen.
    Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich den kleinen Aufzug in der Rue de Sèvres betrat. All das und noch viel mehr.
    Als ich die Wohnungstür öffnete, war ich überwältigt von dem Geruch nach trockener, alter Korbweide, der mir entgegenschlug. Obwohl ich ihn seit über zehn Jahren nicht mehr eingeatmet hatte, war er mir noch nie so durchdringend vorgekommen. Er erinnerte mich an Bordeaux, an meine Großeltern, an die Kinderspiele, an die Ferienmonate, an meine Mutter.
    Die Fensterläden waren geschlossen, und die Wohnung lag in völliger Dunkelheit. Ich blieb einen Augenblick stehen, dann schloss ich langsam die gepanzerte Tür hinter mir und betätigte den Lichtschalter. Ich sah mich in der Wohnung um, die über zwanzig Jahre lang mein Zuhause gewesen war. Das geräumige Wohnzimmer mit der hohen Decke, die antiken Möbel, die mir kleiner und düsterer vorkamen, die vielen zeitgenössischen Gemälde, darunter ein Chagall – mein Vater verehrte Chagall – und ein Ölgemälde von Duchamp. Ich betrachtete den zugemauerten Kamin mit seinen beiden Feuerböcken in Form von Husarenbüsten, den Holzkandelaber, das große Sofa aus braunem Leder, die dicken königsblauen Vorhänge, den abgenutzten Perserteppich und rechts, auf einem niedrigen Tisch, den riesigen altmodischen Fernseher mit den großen verchromten Knöpfen. Es hatte sich fast nichts verändert, doch in der Bibliothek stach mir sofort etwas ins Auge, das anders war als sonst.
    Sie war leer.
    Der Raum enthielt kein einziges Buch mehr, keine einzige Nippesfigur. Nichts befand sich mehr auf den Eichenregalen, die an der weißen Wand gegenüber dem Fenster standen, außer einer dünnen Staubschicht. Dabei hatte mein Vater eine bemerkenswerte, kostbare Sammlung von Originalausgaben, Kupferstichen und Sonderausstattungen besessen. Ich erinnerte mich an einige Werke, die ihm besonders viel bedeutet hatten, wie die Velinausgabe von Der Untergang des Hauses Usher in der Übersetzung von Baudelaire, oder ein von Dubois d'Enghien signierter Band der Versnovellen von La Fontaine. Vor allem aber die Gesamtausgabe der Außergewöhnlichen Reisen von Jules Verne, im Taschenbuchformat bei Hetzel erschienen. Ich höre ihn noch seinen Gästen erklären, dass man diese Ausgabe in Sammlerkreisen zu Unrecht wegen des Duodezformats übersah, obwohl sie – abgesehen von der Veröffentlichung in Zeitschriften – das Original war. Diese Bücher waren häufig mit Grafiken illustriert, die den Veröffentlichungen im Oktavformat entstammten, weshalb man sie nicht immer in den bekannteren großformatigen Ausgaben fand. Damals war das alles für mich nur Kauderwelsch, aber es hinderte mich nicht daran, diese Bände heimlich nachts aus der Bibliothek zu holen, um im Schein meiner Nachttischlampe Jules Verne zu lesen. Ich genoss den Geruch des alten Papiers, strich mit dem Finger über die zarten Grafiken und reiste nach Indien oder zum Mittelpunkt der Erde.
    Wo waren die vielen Bücher hingekommen? Ich beschloss weiterzugehen, in die anderen Räume zu schauen, und nach wenigen Minuten hatte ich die ganze
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