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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr
Autoren: Christina-Maria Bammel
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Generation von Flüchtlingskindern.«
    Ich höre diesen Satz einer tief empörten und getroffenen Frau das erste Mal viele Monate nach dem Weihnachtsfest bei einem, wie ich gerade noch dachte, harmlosen Geburtstagsbesuch. Die Empörung der Heiligen Nacht bebt immer noch in der Stimme der Frau.
    Allerdings höre ich etwas anderes als das, was ich sehe: Der gemeinsam erarbeitete Wohlstand steht ihr auf ein makellos gepflegtes, gebräuntes Äußeres geschrieben. Ihre gesamte Erscheinung trägt den Duft dieses Wohlstands. Gerade ist sie von einem Kurzurlaub auf den Malediven zurückgekommen. Dort taucht sie hin und wieder gern mit ihrem Mann. Seitdem er pensioniert ist, kann man das ja öfter machen. Eigentlich zieht sie aber Städtereisen vor – durch Belgien oder auch mal Skandinavien. Um die osteuropäischen Städte macht sie allerdings nach wie vor einen großen Bogen. Indem sie das sagt, schaut sie mich aus ihren stahlblauen Augen durchdringend an.
    »Wie konnten Sie es wagen, mich persönlich – ach was, unsere ganze Generation – so zu brüskieren …«, wirft sie noch einmal in meine Richtung und lässt die schweren bis auf den Boden reichenden Panoramafenster ihrer Wohnung automatisch schließen. Durch diese Fenster hindurch schaut man von der diskret verborgenen Dachterrasse hinüber zu den Türmen des Gendarmenmarkts. Ein teurer, ein spektakulärer Blick. Aber die Eigentümerin dieser mobilen Herrlichkeit |142| blickt jetzt nicht auf das schöne Sonnenlicht, das sich auf den Spitzen der Türme fast ein bisschen verfängt.
    Sie blickt in ihre eigene Vergangenheit. Hals über Kopf mussten sie im Winter 1944 alles verlassen. Sie war fünf, als sie ihre Geburtsstadt Königsberg das letzte Mal gesehen hatte. Grauenvoll war die Kälte auf der Flucht, sagt sie. Der kleine Bruder starb an Tuberkulose und wurde am Wegrand begraben. Noch heute hört sie das Klackern der Steine, die man über ihn gelegt hat, weil der Boden nicht geöffnet werden konnte. Bilder, Fotos oder etwas Ähnliches, gibt es von ihm nicht. Auch Säuglings- oder Kleinkinderbilder sind verloren, falls es jemals ein oder zwei davon gegeben haben sollte. Alles musste die Mutter damals zurücklassen; nur das Nötigste, einige Urkunden, ein paar Silberdinge, warme Anziehsachen hatten sie gegriffen. Auch davon gibt es heute nichts mehr! Nichts!
    Die schlanke und junggebliebene, offensichtlich sehr gebildete Frau ist mit einem Mal wieder das Mädchen von damals und weiß nicht, wie sie sich gegen die Kälte und die Angst stellen soll: »Wenn Sie hier alle so saumselig Weihnachten feiern, haben Sie eine Idee davon, was uns Flüchtlingskindern von damals fehlt? Können Sie darauf nicht ein kleines bisschen Rücksicht nehmen? Glauben Sie, ich konnte mit meiner Mutter jemals darüber reden, was wir vor 1945 für Kinder waren? Wie wir aussahen, was wir geliebt haben – oder nicht? Kein Wort hat sie mehr darüber verloren, bis sie krank wurde. Können Sie sich das nicht ein bisschen vorstellen?«
    Mit dem Hinweis auf die Christkindpuppen waren Heilig Abend Gottesdienstbesucher eingeladen, persönliche, vielleicht sogar allererste Kinderfotos in Erinnerung zu rufen. Nur für einen Moment sollten sie suchen nach dieser geheimen Verbindung von seliger Machtlosigkeit und zugleich wunderbar neu bestimmten Machtverhältnissen, die entstehen, wenn ein Kind in die Welt blickt. So wie ein Kind das Leben in die Hand nimmt, so wie das Christkind auf Dürers Stich die Welt in die Hand nimmt, so doch auch |143| jedes Neugeborene das Leben und die Liebe seiner Eltern. »Kann man das noch erkennen auf den ersten Aufnahmen von Ihnen?« So lautete die Frage.
    Die ersten Fotos von sich selbst, die man mal gesehen hat, die aufbewahrt wurden oder im Lauf der Zeit vergilbt oder verschwunden sind. Für die Frau, das Flüchtlingskind von damals, hatte mein Vorschlag nicht nur den erinnerten, sondern den noch immer gegenwärtige Schmerz um alles, was verloren gegangen war, freigelegt: ein Bruder, ein zu Hause, eine gesunde Mutter, eine Kindheit. All die guten, die reich gefüllten Lebensjahre waren an diesem Heiligen Abend nichts gegen die Fluchtmomente von damals.
    Sie scheint erleichtert, mir diesen Schmerz endlich einmal sagen, ja vorwerfen zu können. »Aber: Wer interessiert sich schon für die Vergangenheit von uns Ältergewordenen?«
    »Wenn ich mir anschaue, was mit Kindern heute hier in diesem Stadtgebiet angestellt wird, wie sie gehegt, gepflegt, gepuppt und getragen
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