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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe
Autoren: Jodi Picoult
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und stellte mich darauf. Draußen summte der Sommer, so wie er es in Chicago immer tut. Meine Mutter und ich lagen Schulter an Schulter nebeneinander und starrten zu den drei Hengsten hinauf, die über die Decke galoppierten. »Oh, Paige«, seufzte meine Mutter friedlich, »schau dir doch nur einmal an, was wir vollbracht haben.«
    Mit fünf Jahren wusste ich noch nicht, was ›vollbringen‹ bedeutet, und ich verstand auch nicht, warum mein Vater so wütend war und warum meine Mutter ihn ausgelacht hat. Ich wusste nur, dass ich in den Nächten, nachdem meine Mutter uns verlassen hatte, rücklings auf dem Küchentisch gelegen und versucht habe, ihre Schulter an meiner zu fühlen. Ich habe versucht, das Auf und Ab ihrer Stimme zu hören, und nach drei Monaten hat mein Vater Tünche gekauft, um damit die Decke zu streichen und Zoll für Zoll die Rassehengste auszulöschen, bis es so war, als seien die Pferde nie dagewesen und auch meine Mutter nicht.
*
    Um 02.30 Uhr geht das Licht im Schlafzimmer an, und ich betrachte es als einen Hoffnungsschimmer, doch das Licht wird genauso schnell wieder ausgeschaltet. Max ist ruhig, er wacht nicht mehr drei- bis viermal in der Nacht auf. Ich krieche aus dem Schlafsack, öffne den Kofferraum meines Wagens und krame zwischen Starthilfekabeln und leeren Coladosen herum, bis ich meinen Zeichenblock und die Conté-Stifte finde.
    Ich musste sie mir neu kaufen. Ich könnte Ihnen noch nicht einmal ansatzweise sagen, wo ich die alten Stifte vergraben habe, nachdem mir klar geworden war, dass ich nicht auf die Kunsthochschule gehen und mich gleichzeitig um Max kümmern konnte. Aber nachdem ich weggelaufen war, habe ich wieder zu zeichnen begonnen. Zuerst habe ich dummes Zeug gezeichnet: das Einwickelpapier der Hamburger beim Mittagessen, ein Stoppschild, Pennymünzen. Dann habe ich mich an Menschen versucht, auch wenn ich da ein wenig eingerostet war: die Kassiererin im Minimart und zwei spielende Kinder. Ich habe Bilder der irischen Götter und Helden gezeichnet, deren Geschichten ich mein Leben lang gehört habe. Und Schritt für Schritt kehrte das Zweite Gesicht, das ich immer in meinen Fingern hatte, wieder zurück.
    Ich bin nie einfach nur eine Künstlerin gewesen. Solange ich denken kann, habe ich den Dingen auf dem Papier Sinn eingehaucht. Ich mag es, die Lücken zu füllen und dunklen Flecken Farbe zu verleihen. Ich zeichne Bilder, die so nah an die Ränder des Papiers heranragen, dass sie Gefahr laufen herunterzufallen. Und manchmal werden Dinge in meinen Zeichnungen enthüllt, die ich selbst nicht begreife. Gelegentlich beende ich ein Porträt und sehe plötzlich etwas in einer Nackenkuhle oder in einer dunklen Stelle hinter dem Ohr, das ich gar nicht habe zeichnen wollen. Wenn ich das fertige Werk sehe, bin ich immer wieder überrascht. Ich habe schon Dinge gezeichnet, die ich nicht wissen konnte, Geheimnisse, die mir nicht verraten worden sind, und Liebesbeziehungen, die nicht sein sollten. Wenn die Menschen meine Bilder sehen, sind sie fasziniert. Sie fragen mich, ob ich weiß, was all diese Dinge bedeuten, doch das weiß ich nie. Ich kann das Bild zeichnen, doch die Menschen müssen sich ihren Dämonen selber stellen.
    Ich weiß nicht, warum ich diese Gabe habe. Sie zeigt sich auch nicht in jedem Bild, das ich zeichne. Das erste Mal geschah es, als ich im siebten Schuljahr war und im Kunstunterricht eine simple Skyline von Chicago zeichnen sollte. Aber ich habe die blassen Wolken mit Visionen von tiefen, leeren Hallen und klaffenden Türen gefüllt. Und in der Ecke befanden sich fast unsichtbar eine Burg, ein Turm und eine Frau im Fenster, die die Hände aufs Herz presste. Zutiefst verstört riefen die Nonnen meinen Vater an, und als der die Zeichnung sah, wurde er kreidebleich. »Ich wusste ja gar nicht«, sagte er, »dass du dich so gut an deine Mutter erinnerst.«
    Als ich nach Hause zurückkehrte und Nicholas mich nicht mehr hineinlassen wollte, habe ich das Naheliegende getan: Ich habe mich mit Bildern von meinem Mann und meinem Sohn umgeben. Ich habe Nicholas’ Gesichtsausdruck gezeichnet, als er die Tür geöffnet und mich gesehen hat, und ich habe Max gezeichnet, wie er auf Nicholas’ Armen gesessen hat. Dann habe ich beide Bilder ans Armaturenbrett in meinem Wagen geklebt. Sie sind technisch nicht gut, aber es ist mir gelungen, die Gefühle einzufangen.
    Heute, während ich darauf wartete, dass Nicholas aus dem Krankenhaus wieder nach Hause kommt, habe ich aus dem
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