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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe
Autoren: Jodi Picoult
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Weg zurück nach Irland, aber er hat uns nie gesagt, wie lange er bleiben wollte. Er war gerade erst fünf Jahre alt, als seine Eltern ihn nach Chicago brachten, und obwohl er in dieser Stadt aufgewachsen ist, hat er stets an das offene Land von Donegal gedacht. Ich habe mich immer gefragt, wie viel davon Erinnerung und wie viel Fantasie gewesen ist. Aber dann stellte sich diese Frage plötzlich nicht mehr, wenn mein Vater mir seine Geschichten erzählte. Im dem Jahr, in dem meine Mutter uns verließ, brachte er mir anhand von Kinderbüchern zur irischen Mythologie das Lesen bei. Während andere Kinder sich mit Ernie und Bert beschäftigten, lernte ich alles über Cuchulainn, den berühmten, irischen Helden, und seine Abenteuer. Ich las vom heiligen Patrick, der die Insel von den Schlangen befreite; von Donn, dem Gott der Toten, der die Seelen in die Unterwelt geleitete, und vom Basilisken, vor dessen schalem, tödlichen Atem ich mich des Nachts unter der Decke versteckte.
    Die Lieblingsgeschichte meines Vaters war die von Oisin, dem Sohn von Finn Mac Cool. Oisin war ein legendärer Krieger und Dichter, der sich in Niamh verliebte, eine Tochter des Meeresgottes. Sie lebten jahrelang glücklich auf einem Juwel von Meeresinsel, doch Oisin musste ständig an seine Heimat denken. Irland , pflegte mein Vater zu sagen, hat man im Blut. Als Oisin seiner Frau sagte, er wolle wieder zurückkehren, da lieh sie ihm ein magisches Pferd und warnte ihn, nicht abzusteigen, denn inzwischen seien dreihundert Jahre vergangen. Doch Oisin fiel vom Pferd und verwandelte sich in einen sehr, sehr alten Mann. Trotzdem war der heilige Patrick da, um ihn willkommen zu heißen, wie – so sagte mein Vater – er dereinst auch uns willkommen heißen wird.
    Nachdem meine Mutter uns verlassen hatte, versuchte mein Vater, mich so gut wie möglich zu erziehen. Also schickte er mich in eine Konfessionsschule, wo ich jeden Sonntag beichten musste und wo ein Bild von Christus am Kreuz wie ein Talisman über meinem Bett hing. Mein Vater sah die Widersprüche im Katholizismus nicht. Vater Draher lehrte uns, unsere Nächsten zu lieben, doch den Juden sollten wir nicht vertrauen. Schwester Evangeline predigte uns von unreinen Gedanken, dabei wussten wir alle, dass sie fünfzehn Jahre lang die Geliebte eines verheirateten Mannes gewesen war, bevor sie ins Kloster eingetreten war. Und natürlich gab es die Beichte und die Absolution, was nichts anderes bedeutete, als dass man mit allem durchkommen konnte, solange man anschließend nur ein paar Ave-Maria und Vaterunser sprach. All das habe auch ich eine ganze Zeit lang geglaubt, bis ich erkennen musste, dass die Seele Narben davontragen kann, die nichts und niemand auszulöschen vermag.
    Mein Lieblingsort in ganz Chicago war die Werkstatt meines Vaters. Dort war es staubig, und es roch nach Holzspänen und Klebstoff, und es gab dort Schätze, alte Kaffeemühlen, verrostete Scharniere und purpurfarbene Hula-Hoop-Reifen. An den Abenden und an verregneten Samstagen verschwand Daddy im Keller und arbeitete, bis es dunkel war. Manchmal kam ich mir dann wie das andere Elternteil vor, wenn ich ihn nach oben zerren und ihn ermahnen musste, auch mal etwas zu essen. Manchmal arbeitete er auch an seinen Erfindungen, während ich auf dem alten grünen Sofa saß und meine Hausaufgaben machte.
    In seiner Werkstatt verwandelte sich mein Vater in einen anderen Menschen. Er bewegte sich mit der Eleganz einer Katze, und er zauberte Bauteile, Räder und Zahnkränze aus der Luft wie ein Magier, um Dinge wie aus dem Nichts zu erschaffen. Wenn er von meiner Mutter sprach – was nur selten der Fall war –, dann nur in der Werkstatt. Manchmal erwischte ich ihn dabei, wie er zum nächstgelegenen Fenster hinaufstarrte, einem kleinen geborstenen Rechteck. Milchiges Licht fiel dann auf ihn, und er sah um Jahrzehnte älter aus, als er tatsächlich war. Und ich musste mich selber daran hindern, die Jahre zu zählen und zu überlegen, wie viel Zeit tatsächlich vergangen war.
    Es war nicht so, dass mein Vater je zu mir gesagt hätte: Ich weiß, was du getan hast. Er hat einfach aufgehört, mit mir zu sprechen. Und da habe ich gewusst, dass er wollte, dass ich so schnell wie möglich aufs College ging. Ich dachte an ein Mädchen aus meiner Klasse, das zum Thema Sex einmal bemerkte: Hat man es erst einmal getan, dann kann jeder es sehen. Galt für Abtreibungen das Gleiche? Konnte mein Vater mir das am Gesicht ansehen?
    Ich wartete eine
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