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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe
Autoren: Jodi Picoult
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Gedächtnis gezeichnet. Ich habe Bild auf Bild angefertigt und beide Seiten des Papiers bemalt. Jetzt habe ich mehr als sechzig Bilder von Nicholas und Max.
    Ich arbeite gerade an einer Zeichnung, die ich früher am Abend begonnen habe, und ich bin so sehr darin vertieft, dass ich nicht einmal bemerke, wie Nicholas auf die Veranda tritt. Das sanfte weiße Licht umgibt ihn wie einen Heiligenschein. »Paige?«, ruft er. »Paige?«
    Ich gehe zur Veranda, an eine Stelle, wo er mich sehen kann. »Oh«, sagt Nicholas und reibt sich die Schläfen. »Ich wollte nur nachsehen, ob du noch immer hier bist.«
    »Ja, ich bin noch immer hier«, erwidere ich, »und ich werde auch nirgendwo anders hingehen.«
    Nicholas verschränkt die Arme vor der Brust. »Nun«, sagt er, »dafür ist es wohl ein wenig spät.« Kurz glaube ich, er würde sofort wieder ins Haus gehen, doch stattdessen zieht er den Bademantel enger um die Schultern und setzt sich auf die Verandatreppe. »Was machst du da?«, fragt er und deutet auf meinen Zeichenblock.
    »Ich habe gerade an dir gearbeitet. Und an Max«, antworte ich und zeige ihm eine der Zeichnungen, die ich früher am Tag gemacht habe.
    »Das ist gut«, sagt er. »Du warst schon immer gut darin.«
    Ich kann mich nicht daran erinnern, wann Nicholas mich zuletzt für etwas gelobt hat. Kurz schaut er mich an, und fast wäre seine Schutzmauer in sich zusammengefallen. Seine Augen sind müde und blass. Sie sind vom gleichen Blau wie meine.
    In dieser einen Sekunde, während ich Nicholas anschaue, sehe ich wieder den jungen Arzt, der einst davon geträumt hat, zur Spitze zu gehören, und der sich in meinen Armen geheilt hat, immer wenn einer seiner Patienten gestorben war. Und ich sehe in seinen Augen das Spiegelbild eines Mädchens, das früher einmal an Romantik geglaubt hat. »Ich würde ihn gerne mal in den Arm nehmen«, flüstere ich, und bei diesen Worten huscht ein Schatten über Nicholas’ Gesicht.
    »Du hattest deine Chance«, sagt er, steht auf und geht wieder ins Haus.
    Im Mondschein arbeite ich weiter an meiner Zeichnung. Die ganze Zeit über frage ich mich, ob Nicholas auch schlecht schlafen kann, und ich stelle mir vor, wie gereizt er morgen sein wird, wenn er nicht hundert Prozent fit ist. Vielleicht wird das Bild ja so, wie es wird, weil ich mich nicht voll darauf konzentriere. Wie auch immer, jedenfalls ist alles falsch. Ich habe ein Bild von Max gezeichnet – die winzigen Fäuste, das zerzauste, samtige Haar –, doch irgendwie passt nichts zusammen. Es dauert ein paar Minuten, bis ich erkenne, woran das liegt. Ich habe Max nicht mit Nicholas, sondern mit mir gezeichnet. Er sitzt auf meinem Arm und greift nach meinem Haar. Für einen Außenstehenden ist das Bild vollkommen normal, doch verborgen in Max’ ausgestreckter Hand liegt ein feingewebter Blätterkranz. Und ins Zentrum dieses Kranzes habe ich das Bild meiner weglaufenden Mutter gemalt, die vorwurfsvoll das Kind in den Armen hält, das ich nie gehabt habe.

T EIL I
    Empfängnis
    1985–1993

K APITEL 1
    P AIGE
    Ich habe das Mercy gefunden, als ich am wenigsten damit gerechnet habe. Das Mercy war ein kleiner Schnellimbiss in einer schäbigen Nebenstraße in Cambridge, und die Kundschaft bestand vorwiegend aus Studenten und Professoren, die sich unters gemeine Volk mischen wollten. Ich war damals Ende zwanzig. In der Nacht zuvor war mir klar geworden, dass niemand, der noch bei Verstand war, mich ohne Referenzen als Kindermädchen einstellen würde, und dass mich ein Lächeln und mein mageres Portfolio nicht an die Kunsthochschule bringen würden. Also habe ich um 05.30 Uhr meine Schultern gestrafft, bin ins Mercy gegangen und habe zu einem Gott gebetet, an dem ich mein Leben lang gezweifelt habe, dass dies wirklich der Ort meiner Erlösung sein würde.
    Der Imbiss war irreführend klein, und es roch nach Thunfisch und Putzmitteln. Ich ging an den Tresen und tat so, als würde ich mir die Speisekarte ansehen. Ein großer, farbiger Mann kam aus der Küche. »Wir haben noch nicht geöffnet«, sagte er, drehte sich dann um und ging wieder hinein.
    Ich schaute nicht von der Speisekarte auf. Es gab Cheeseburger, Muschelpastetchen und griechische Vorspeisen. »Wenn Sie noch nicht geöffnet haben«, sagte ich, »warum ist die Tür dann nicht abgeschlossen?«
    Es dauerte einen Moment, bis der Mann mir darauf antwortete, er kam aus der Küche und legte je einen fleischigen Arm rechts und links neben mich auf den Tresen. »Solltest du
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