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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel
Autoren: Jan Stressenreuter
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die Macht, die Marcos Abwesenheit über ihn hat.
    Jetzt, da er reglos in der Dunkelheit steht, kann er die Kälte der Nacht wieder fühlen. Wie ein Schimmelpilz kriecht sie an ihm hoch, fährt ihm in die Glieder und lässt ihn frösteln. Finn bläst in seine Hände und sein Atem steigt wie eine Nebelbank vor seinem Gesicht auf. Er haut das Beil ein letztes Mal in den Baumstumpf und lässt es dort stecken. Dann dreht er sich um und geht zurück ins Haus.
    In der Küche wirft er einen kurzen Blick auf die Uhr über der Spüle und entscheidet, dass es sich nicht mehr lohnt, noch einmal ins Bett zu gehen. Stattdessen macht er die Kaffeemaschine an. Das Pulver muss er mit einem Zewa-Tuch filtern, die richtigen Kaffeefilter sind ihm am Vortag ausgegangen und er hat sich nicht aufraffen können, zum Einkaufen ins Nachbardorf zu fahren. Dort gibt es einen Tante-Emma-Laden, aber wenn er dort auftaucht, weiß innerhalb weniger Stunden jeder im Umkreis von zwanzig Kilometern, dass er wieder allein ist. Auf dem Land verbreiten sich Neuigkeiten in Windeseile, als wären die brachliegenden Felder und Äcker besonders gutes Leitmaterial für Gerüchte und Vermutungen, und Finn will nicht, dass man sich über ihn das Maul zerreißt. Er hätte nicht überall erzählen sollen, dass er endlich den Mann fürs Leben gefunden hat.
    Mit einem abgehackten Piepen erklärt die Kaffeemaschine ihre Arbeit für beendet. Finn füllt einen Becher mit der dampfenden, bitteren Flüssigkeit, setzt sich an den Küchentisch und schiebt einen gebrauchten, mit Essensresten verkrusteten Teller beiseite. Zum wiederholten Mal checkt er das Display seines Handys. Nichts. Kein Anruf in Abwesenheit, keine SMS. Marco wird sich nicht melden. Finn weiß es genau, aber er kann die Hoffnung nicht aufgeben. Sie ist das Rettungsseil, das ihn wie einen Bergsteiger vor dem Absturz bewahrt.
    Er starrt in die heiße Kaffeetasse und fängt plötzlich an zu weinen. Dicke, hässliche Tränen rinnen ihm über die Wangen, seine Augen sind rot und verquollen, Rotz läuft ihm aus der Nase. Finn vergräbt sein Gesicht in den Händen.
    Nach einer Weile hat er sich einigermaßen im Griff. Er wischt die Nase am Ärmel des Pullovers ab und schlurft mit hängenden Schultern nach oben ins Bad. Ein paar kleine Holzspäne lösen sich von der Sohle seiner Schuhe und verteilen sich auf der Treppe. Finn stützt sich am Waschbecken auf und schaut prüfend in den Spiegel. Was er sieht, macht ihm Angst. Den Mann, der ihm verzweifelt und trostlos in die Augen glotzt, hat er noch nie zuvor gesehen. Als ob er durch einen ungewollten Zufall über eine ältere, ausgebrannte Version seines eigenen Ichs gestolpert wäre.
    „Arschloch!“ sagt er zu seinem Spiegelbild. Es fühlt sich gut an, sein Gegenüber zu beschimpfen. „Idiot!“ fügt er versuchsweise hinzu. „Hurensohn!“ Der Mann im Spiegel nimmt seine Beleidigungen fast dankbar entgegen, als hätte er nichts anderes verdient.
    Die Erschöpfung überfällt Finn wie ein Raubtier, das die ganze Zeit im Hintergrund gelauert hat. Mit Mühe schleppt er sich ins Schlafzimmer. Angezogen legt er sich auf sein Bett und zusammen mit einem Glas Wasser schluckt er alle Tabletten hinunter, die er in der Schublade seines Nachttischs aufbewahrt hat. Dann lässt er sich erleichtert in das schwarze Loch fallen, das hinter den geschlossenen Lidern auf ihn wartet.
    Es wird Tage dauern, bis ihn jemand findet.
    „Marco?“ sagt Patrick und reißt mich aus meinen Gedanken. „Erwartest du wirklich, dass wir dir das abnehmen?“
    „Eh … nun ja“, erwidere ich zögernd, „es ist so, wie ich gesagt habe, ob ihr mir nun glaubt oder nicht. Der Typ ist plötzlich mit einem Riesenknall aus dem Nichts auf meine Kühlerhaube gefallen. Ich kann auch nichts dafür.“
    „O Gott“, stöhnt Anja, „er glaubt es wirklich!“ Sie macht lange Finger und versucht, sich einen Dominostein aus der Packung zu angeln.
    „Schätzchen, du hattest vor einer Stunde ein Tic Tac “, grinst Lars und haut ihr auf die Hand. „Essen gibt’s erst wieder am Dienstag.“
    Anja sieht Lars wütend an und setzt sich wieder auf ihren Platz. „Sehr witzig“, murmelt sie.
    „Vielleicht hat Marco ein Hirntrauma oder so was“, sagt Patrick. „Ich hab mal was Ähnliches in einer Zeitschrift gelesen. Deutsche Medizinische Wochenschrift . Genau. Obwohl … wenn ich darüber nachdenke, könnte es auch die Apotheken-Umschau gewesen sein. Jedenfalls ging es um die Ursache von Einbildungen
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