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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel
Autoren: Jan Stressenreuter
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für mich geworden, was sehr praktisch ist, denn zu meiner eigentlichen Familie habe ich nur wenig Kontakt. Anja ist Kunststudentin im ungefähr dreißigsten Semester – die genaue Zahl ist das von ihr bestgehütete Geheimnis – und seit mehr als zwanzig Jahren in Harrison Ford verknallt. Das erklärt einerseits, woher ihre Vorliebe für ältere Männer stammt, und andererseits, warum sie seit Jahren keinen festen Freund mehr gehabt hat. Niemand, der nicht mindestens alle drei Indiana-Jones -Filme mitsprechen kann, überlebt die Vorauswahl. Außerdem scheint sie von jedem ihrer graumelierten Verehrer zu erwarten, dass er ein Ausbund an Sportlichkeit ist, und wundert sich, wenn sie beim Köln-Marathon nach zwei Kilometern mit Herz-Rhythmus-Störungen das Erste-Hilfe-Zelt aufsuchen müssen. Dezente Hinweise, dass auch Harrison Ford seine besten Tage schon hinter sich hat und heute sicherlich nicht mehr wie Indiana Jones von Liane zu Liane springt, ignoriert Anja stoisch.
    Ein weiterer Tick von Anja ist ihre niemals endende Suche nach der perfekten Diät. Obwohl sie spindeldürr ist und im Spiegel kaum mehr als ein Strich zu sehen ist, wenn sie sich im Profil davor stellt, bildet sie sich ein, Fettröllchen am Bauch und den Oberschenkeln anzusetzen. Infolgedessen wird unsere Küche alle paar Wochen mit ungewöhnlichen und abstrusen Nahrungsmitteln überflutet, die wir sonst nie im Haus haben, wie zum Beispiel zehn Kilo Tofu, acht Kohlköpfen oder fünfzehn Schachteln Diätmargarine. Unnötig zu erwähnen, dass Anja ihre Abmagerungskuren nie durchhält und meist durch nächtliche Ausflüge in die Küche, bei denen sie unsere Schokoladenvorräte plündert, konterkariert.
    Lars ist Chemiker bei einem großen Pharmakonzern ganz in der Nähe von Köln. Ich habe bis heute noch nicht verstanden, womit er seinen Lebensunterhalt verdient, aber es hat etwas mit Forschung zu tun. Jedenfalls ist er in der Lage, uns ständig mit einem ausreichenden und vor allen Dingen kostenlosen Vorrat an Aspirin und Vitaminpillen zu versorgen – als Gegenleistung müssen wir nur hin und wieder als Versuchskaninchen für die neuesten chemisch-medizinischen Kreationen seiner Abteilung herhalten. Die Abende, an denen Lars uns eine Mischung kleiner gelber, roter, violetter oder blauer Pillen auf den Küchentisch wirft, haben etwas von „Russisch Roulette“ oder „Die Reise nach Jerusalem“. Mit Todesverachtung spülen wir die Tabletten wie empfohlen mit viel Flüssigkeit herunter – meistens mit einer Flasche Bier – und Lars beobachtet gespannt, ob sich bei uns Nebenwirkungen zeigen. Sicherheitshalber stellt er immer einen Eimer mit kaltem Wasser neben den Tisch, falls wir in Ohnmacht fallen. Bisher ist allerdings nie viel passiert. Ich habe mir einmal fast die Seele aus dem Leib gekotzt und ein anderes Mal haben sich bei Anja kurzfristig alle Fußnägel blau verfärbt. Natürlich könnten wir uns alle weigern, seine Versuchskaninchen zu spielen, aber wir trauen uns nicht, denn Lars ist Hauptmieter unserer Wohnung, und wir sind offiziell nur seine Untermieter – er hat also immer ein prima Druckmittel in der Hand.
    Lars ist bisexuell, behauptet er zumindest. Allerdings beschränken sich seine schwulen Erfahrungen fast ausschließlich darauf, dass ihm während der Schulzeit ein Klassenkamerad auf der Jungentoilette mal einen geblasen hat. Eine Zeit lang war ich verliebt in Lars, denn er sieht wirklich ziemlich gut aus: groß, schlank, niedliche Segelohren und einen dunklen Bartschatten und Teint, der ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit Enrique Iglesias verleiht. Meine Liebe erkaltete allerdings ziemlich schnell, als er eines Tages den Hauptcharakterzug seiner derzeitigen Freundin mit drei kleinen Wörtern zusammenfasste: „Geile Titten, Mann!“ Außerdem ist Sex für Lars eine rein sportliche Aktivität, während ich Gefühle damit verbinde.
    Diese unterschiedlichen Standpunkte haben in der jüngsten Vergangenheit schon mal zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen uns geführt – um genauer zu sein, wir hatten vor einigen Wochen ziemlichen Zoff miteinander –, aber nachdem wir uns darauf geeinigt haben, dieses Thema in Zukunft einfach auszuklammern und Lars mal kurz mit meinem Mietvertrag gewedelt hat, verstehen wir uns wieder etwas besser. Außerdem muss ich bei meinen moralischen Werturteilen über Lars im Hinterkopf behalten, wie billig die Miete für mein Durchgangszimmer ist.
    Patrick ist derjenige von uns vieren, der richtig schwer
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