Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel
Autoren: Jan Stressenreuter
Vom Netzwerk:
scheint niemand Notiz von seinem Vorstoß zu nehmen und der Junge wird mutiger. Er stützt sich mit den Ellenbogen auf den Planken auf und versucht, sich hochzuziehen. Dabei ruft er erneut den Namen seiner Schwester, aber seine Kräfte reichen nicht aus, seinen Körper auf das Holz zu wuchten. Seine Beine rutschen von der wackeligen Luftmatratze und plötzlich hat er nur noch Wasser unter den Füßen. Als er sich umsieht, treibt die Matratze schon außerhalb seiner Reichweite. Über ihm tauchen zwei Jungen auf, die doppelt so alt und doppelt so kräftig sind wie er. Sie grinsen zu ihm herab und machen sich über seine Versuche lustig, sich nach oben zu ziehen. Dann erinnern sie ihn daran, dass Kleinkindern das Betreten des Pontons verboten ist. Der Junge registriert neidisch, dass seinen Widersachern schon dunkle Haare auf den Waden wachsen. Er sieht hilfesuchend zu seiner Schwester, die gerade die beiden Freunde beschwichtigen und sie ungnädig bitten will, ihren Bruder nach oben zu ziehen, als die zwei nach dem Jungen greifen und ihn lachend zurück ins Wasser werfen.
    Mit einem Schrei taucht er unter und verschluckt sich. Heftig mit den Armen rudernd versucht er, wieder an die Luft zu kommen, dabei ist er schon erschöpft von seinen Bemühungen, sich auf das Holz zu ziehen. Der Junge kann nichts sehen und verliert die Orientierung, denn das Wasser in der Nähe des Floßes ist grün vor Algen. Plötzlich weiß er nicht, wo oben und unten ist, links und rechts. Er macht ein paar hektische Schwimmzüge dorthin, wo er die Oberfläche vermutet, und dabei schlägt sein Kopf gegen etwas Großes, Dunkles genau über ihm. Der Junge ist in seiner Panik genau unter das Holzfloß geschwommen, nun machen ihm die Planken das Auftauchen unmöglich. Etwas Scharfes, vielleicht ein Nagel, mit dem die Bretter zusammengehalten werden, ratscht an seinem Gesicht entlang und reißt eine Wunde in die Haut über der Oberlippe. Der Junge schmeckt Blut. Er bekommt keine Luft und schluckt noch mehr Wasser. Sterne beginnen vor seinen Augen zu tanzen. Verzweifelt schlägt er um sich, strampelt mit Armen und Beinen. Luftbläschen und Algen wühlen das Wasser auf und das Bedürfnis nach Luft wird immer größer. Der Junge hat das Gefühl, dass ihm gleich der Brustkorb platzt. Er hat Angst, er kann nicht mehr klar denken, er will nur atmen, atmen, atmen. Wieder stößt sein Kopf gegen den Ponton, er versucht sogar instinktiv, mit letzter Kraft die Holzplanken nach oben zu stemmen – und dann kann er nicht mehr. Er muss atmen. Der Junge öffnet seinen Mund und das Wasser strömt in seine Lungen.
    Im letzten Moment, als seine Arme schon erschlaffen und sein Körper nach unten, auf den Grund des Sees, zu sinken beginnt, fühlt er eine Hand unter seiner Achsel, dann zwei, und er wird zur Seite gezogen, weg von dem Ponton und nach oben. Ein Gesicht taucht vor ihm auf, das Gesicht eines jungen Mannes, das er noch nie zuvor gesehen hat, auf jeden Fall war er bestimmt nicht eben auf dem Holzfloß. Das Gesicht strahlt Zuversicht aus und lächelt und der Junge hat plötzlich keine Angst mehr. Er schaut nach oben und sieht, dass das Wasser heller wird. Er hat es fast geschafft, gleich wird er wieder Luft holen können.
    Der Junge streckt seine Arme aus und fremde Hände ziehen ihn hoch, bis sein Kopf die Wasseroberfläche durchbricht. Eine Stimme raunt ihm etwas ins Ohr, das er nicht versteht, und dann wird er auf den Ponton gehievt und auf den Rücken gelegt. Jemand pumpt Luft in seine Lungen. Der Junge hustet und erbricht einen Schwall brackiges Seewasser und dann tut er seinen ersten, rasselnden Atemzug. Er starrt in das hysterische und verheulte Gesicht seiner Schwester, die sich über ihn beugt, und fragt sie: „Wo ist er? Wo ist der Mann aus dem Wasser?“ Er blickt sich suchend um, aber sein Retter ist nicht zu sehen und seine Schwester schüttelt den Kopf und fragt, wen er denn meine, da sei niemand gewesen.
    Aber der Junge weiß es besser.

1. Etwas fällt von oben herab
    Vollmond. Na klar. Kein Wunder, dass ich nicht schlafen kann. Entnervt starre ich auf die große, pockennarbige Scheibe am Himmel, die ihr fahles Licht durch das Fenster genau auf mein Kopfkissen wirft. An den Scheiben haben sich Eiskristalle gebildet, denn draußen herrscht klirrende Kälte. Weihnachten ist nur noch wenige Tage entfernt.
    Die Mondsucht habe ich in dieser abgewandelten Form von meiner Mutter geerbt, die seit jeher in Vollmondnächten im Tiefschlaf wie das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher