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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally
Autoren: Arno Geiger
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    1
     
    Hinter einem Bitte-nicht-stören-Schild steht Sally am Fenster, Alfred liegt auf dem Bett, er blickt vom Tagebuch auf, in das er seine morgendlichen Notate schreibt. Träge schaut er zum Fernseher, wo die Nachrichten nichts Neues bringen, seit unzähligen Jahren dieselben Ereignisse, mit Variationen nur bei den Zwischennummern – über die wird aber nicht berichtet.
     
    Hart geführter Wahlkampf um die
    Präsidentschaft der Vereinigten Staaten.
    WANDERURLAUB EINES GEWISSEN ALFRED
    UND EINER GEWISSEN SALLY.
    BLUTIGE SCHLACHT IN AFGHANISTAN.
     
    Auch die Nachricht, dass mancherorts noch immer gesteinigt wird, ist nichts Neues. Sally dreht sich ebenfalls hin, sie findet es irritierend, wie schlecht das Gerät ist – Bild und Ton, als würde man sich Bilder am Grund eines Eimers mit Dreckwasser ansehen. Die dumpf klingende Stimme des Nachrichtensprechers teilt mit, dass vor allem Frauen betroffen seien, wegen Ehebruchs, was an den meisten Orten der Welt kein Vergehen sei. Ein verwackeltes Video geistert über den Bildschirm. Eine weiß verschleierte Frau, die bis unter die Brust eingegraben ist, wird von Zeugen und Schaulustigen mit Steinen beworfen, eine Stimme sagt,dass die Steine nicht zu groß und nicht zu klein sein dürften, nach den Maßstäben der dortigen Theologie. Sally stellt sich eine staubige Welt vor, und wie das ist, wenn der erste Stein den Kopf trifft, und während das Gehirn noch zittert, gleich der nächste, und die Schmerzen ganz durcheinander, welcher Schmerz wo? Von der Vorstellung wird ihr beinahe schlecht, und dass die Leute auch von hinten werfen, das ist ungeheuerlich, sie kann’s beim besten Willen nicht verstehen, ihre Brauen sind ganz finster gerückt vor Zorn.
    »Es ist schon unheimlich, was für Spinnweben in manchen Köpfen herumwehen«, sagt sie.
    Alfred biegt sich seinem Tagebuch entgegen. Ohne aufzublicken, murmelt er »Aha«, »Ja« und »Uuhh«, ganz in seinem schneckenhaften Element, versunken in die Vermessung seiner kleinen Erfolge und Niederlagen. Manchmal kratzt er sich mit dem hinteren Ende des Tintenrollers an der Schläfe, als versuche er, in der Ereignislosigkeit des Vortages fündig zu werden, dann kritzelt er wieder drauflos, als wäre in den Stift ein Dämon gefahren.
    Sally findet es mit einem Mal anstrengend, wie Alfred auf ältliche Weise im Bett sitzt, ein überzeugender Beitrag zur Trostlosigkeit dieses Zimmers, Alfred, in seiner weichen Korpulenz, zwei Kissen im Rücken. Während des Schuljahres wäre Sally froh über die Ruhe, die ihr Alfreds Faulenzen lässt, aber jetzt, in den Ferien, sollte man meinen, ist es selbst für einen Mann in Alfreds Alter eine unnatürliche Sache, so viel herumzuliegen. Sally spürt einen Stich des Alarms, gleichzeitig hat sie Alfred vor Augen, sein träges Gehen, gestern, als er mit Hängeschultern über das Hochmoorstapfte, den kleinen Rucksack nach Schulbubenart auf dem Rücken, im vorwurfsvollen Zwiegespräch mit seinen Schuhen, die längst nicht mehr neu sind, aber offenbar nicht alt genug, um ihm sympathisch zu sein. Als sie am Abend in der Pension die Treppe hochstiegen, knickten ihm die Beine vor Müdigkeit fast ein. Er duschte, fiel aufs Bett, und während er fernsah, aß er mehrere Sandwichs und eine ganze Tafel Schokolade. Anschließend schlief er zehn Stunden, vergaß aber selbst im Tiefschlaf nicht, fordernd und verlangend zu sein. Die halbe Nacht grabschte er nach Sallys Hüften oder ihrem Hintern, die meiste Zeit lag er auf ihr. Sie selber wachte einige Male in Schweiß gebadet auf, so dass sie sich jetzt fragt: Was ist das? Ist es Alfred oder seelische Armut oder eine Krankheit? Sind es die Hormone oder ist es Angst?
    Während Sally mit gewölbter Oberlippe Luft ausstößt, streicht sie sich über das morgendlich gealterte Gesicht, dann legt sie die Hand wieder ans Fensterbrett, den Ballen an der Kante, wo der Lack abblättert, die Finger gespreizt. Sie blickt in eine Straße mit Arbeiterwohnhäusern und dahinter auf den bauchigen Kamin einer ehemaligen Baumwollmühle und ein Stück weiter, hinter dem Kamin, auf weitere Kamine, auf der anderen Seite des Flusses und des Kanals. Von dort dringt Straßenmusik zu ihr her. Sie denkt, wenn sie wegen Alfreds Beinen nichts Großes unternehmen können, so doch wenigstens den Spaziergang hinauf nach Heptonstall, wo sie das Grab von Sylvia Plath vor fünfzehn Jahren nicht gefunden haben. Es wäre schade um das schöne Wetter, das draußen verlorengeht. Sally
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