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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel
Autoren: Jan Stressenreuter
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schlurfe ich nach vorne und gehe zum Kühlschrank, um mir ein Glas Wasser zu holen. Anja, Patrick und Lars sitzen um den Küchentisch wie eine Gruppe von Geschworenen, die sich zur Beratung eines Gerichtsurteils zurückgezogen haben, trinken Kölsch und futtern Spekulatius und Dominosteine aus einem Sonderangebot von Aldi . Das heißt, Lars und Patrick essen und Anja sieht ihnen mit hungrigen Augen dabei zu. Als ich die Küche betrete, verstummt ihr Gespräch, und während ich umständlich mit der Sprudelflasche hantiere, spüre ich, wie sie mich von der Seite beobachten.
    „Was ist?“ frage ich schließlich, als ich die Spannung nicht mehr aushalte.
    Lars stellt seine Bierflasche auf den Tisch. „Und?“ fragt er zurück. „Schläft er?“ Mit dem Kopf deutet er vage in Richtung der Rumpelkammer.
    Ich nicke.
    „Okay“, sagt Anja vorsichtig. „Vielleicht kannst du uns die ganze Geschichte noch mal erzählen. Ich meine – ohne dass er dabei ist.“ Sie sieht mich an, als wäre ich gerade aus der Klapse entlassen worden.
    „Ja“, ergänzt Patrick und zwinkert mir zu. „Ich will das noch mal hören, Marco. Du weißt schon, wie du ihn getroffen hast und wer oder was er angeblich ist.“
    Ich fingere mir eine Zigarette aus der Packung, die er mir anbietet, und inhaliere den Rauch, bevor ich antworte. „Sein Name ist Rafael. Er ist direkt vom Himmel auf meine Kühlerhaube gefallen und er ist ein schwuler Engel“, sage ich. „Behauptet er jedenfalls.“ Die anderen sehen sich fassungslos an und brechen in tosendes Gelächter aus. Ich würde gerne mitlachen, aber irgendwie bleibt mir das Lachen im Halse stecken. Ich habe mir das Ganze schließlich nicht eingebildet. Ich brauche nur nach draußen zu gehen und die riesige Delle vorne auf meinem Auto anzusehen.
    Kontinuität und eine gewisse Sicherheit sind Grundvoraussetzungen für mein seelisches Gleichgewicht, auch wenn ich diesen Zielen meist vergeblich hinterherrenne. Doch bis gestern habe ich eigentlich ein – zumindest für meine Begriffe – rundum normales, geregeltes und geradezu solides Leben geführt. Es mag zwar verwunderlich erscheinen, dass ich mit vierunddreißig Jahren noch immer in einer Wohngemeinschaft wohne, aber das ist Absicht. Ich bin WGler aus Überzeugung. Ich hasse es, morgens alleine zu frühstücken und abends nach der Arbeit nur dem Radio oder dem Fernseher erzählen zu können, was für ein Idiot mein Chef oder wie nervend die neue Kollegin ist, weil sie immer noch nicht gecheckt hat, dass ich schwul bin und mir permanent ihre fast frei schwingenden Möpse ins Gesicht hält. Wenn ich dagegen abends Anja oder Patrick mein Leid klagen kann, kippen wir dazu ein paar Martinis oder eine Flasche Grappa hinunter, ziehen über die Schlampen dieser Welt her und bestellen uns eine fettige Familienpizza von unserem Lieblingsitaliener mit allen Zutaten, die Tonios Abfalleimer hergibt, und anschließend bin ich mit der Welt wieder versöhnt. Würde ich allein wohnen, stünden mir nur Fernsehen oder Internet als Seelentröster zur Verfügung.
    Außerdem fördert das Leben in einer Wohngemeinschaft Spontaneität und Kreativität, im Hinblick auf meinen Job eine nicht zu unterschätzende Nebensächlichkeit. Als letzten Sommer während einer dieser feucht-warmen Hitzeperioden, bei denen selbst Sex eine unzumutbare Belastung des Kreislaufs darstellt, aus irgendeinem unerfindlichen Grund unsere Heizung ansprang, sich trotz unserer intensiven, wenn auch wenig fachmännischen Versuche nicht mehr abstellen ließ und die Temperatur in unserer Wohnung innerhalb einer Stunde auf 45 Grad gestiegen war, hatte Lars die brillante Idee, einen Karibikabend zu veranstalten. Wir riefen ein paar Freunde an, legten meine Salsa-CDs auf, mixten Caipirinhas, bis es im ganzen Viertel keine Limetten mehr zu kaufen gab, und tanzten in Badehose oder Bikini durch die Wohnung. Anja drehte zusätzlich die Höhensonne auf, und als wir am nächsten Morgen aufwachten, hatten wir alle neben einem Kater einen wunderschönen Sonnenbrand und eine Anzeige bei der Polizei wegen nächtlicher Ruhestörung. Das hat Spaß gemacht.
    Trotzdem hat jeder von uns genug Freiraum und kann sich in seine eigenen vier Wände zurückziehen, wann immer er will. Gemeinsam nutzen wir nur Küche, Bad und Balkon – dort allerdings kommt es schon mal zu Streitigkeiten, da wir zu viert sind und nur drei Stühle darauf Platz haben.
    Im Laufe der letzten paar Jahre sind meine Mitbewohner wie eine Familie
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