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Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees

Titel: Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
Autoren: Juergen Gottschlich
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und hat in den letzten Jahren von der politischen Normalisierung zwischen der Türkei und Syrien profitiert. Die Stadt ist zum Zentrum des Handels mit den arabischen Nachbarn geworden. Abgesehen von diesen Städten aber ist die anatolische Hochebene östlich von Ankara bereits ein anderes Land als die westliche Türkei. Hier trifft man auf ein klassisches Agrarland, arm, rückständig, traditionell und ziemlich dünn besiedelt. Hierher verirrt sich so gut wie nie ein ausländischer Tourist, und auch im Land selbst genießt die anatolische Hochebene die mit Abstand geringste Aufmerksamkeit. Wenn aus dieser Hochebene dann wieder die ersten größeren Berge herausragen, beginnt der eigentliche wilde Osten des Landes.
    Das erste große Missverständnis in der deutschen Wahrnehmung der Türkei ist, dass oft der Osten für das Ganze genommen wird. Das liegt daran, dass bei der Berichterstattung über die Türkei zumeist die Probleme des Ostens im Mittelpunkt stehen und auch die bekannten Mythen und Legenden des Landes von dort stammen. Im Osten spielt »Yol«, der berühmte Film von Yilmaz Güney, in dem schon Anfang der 80er Jahre von »Ehrenmord« und Freiheitskampf, von den großen Clans, den reichen Feudalherren und der Armut der Leute erzählt wird. Auch Yasar Kemals weltbekannte Erzählung »Mehmet mein Falke« ist eine Geschichte über den Freiheitskampf im Osten und nicht zuletzt »Schnee«, der letzte große Roman des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk, welcher hauptsächlich in Kars spielt, einer Kleinstadt ganz im Nordosten, nahe der armenischen und georgischen Grenze. Dieser wilde Osten, der im Süden an Irak und Syrien grenzt, im Osten an Iran und Armenien und im Nordosten an Georgien, der fast so groß ist wie die frühere Bundesrepublik, ist der Schauplatz der Dramen, die auch heute noch das Bild der Türkei bestimmen. Hier fanden die Deportationen und Massaker an den Armeniern im zerfallenden Osmanischen Reich während des Ersten Weltkrieges statt, hier hat die türkische Republik schon in den 30 er Jahren große kurdische Aufstände blutig niedergeschlagen und hier kämpft die kurdische Arbeiterpartei PKK seit 1984 für einen eigenen Staat.
    Während der Südosten überwiegend kurdisch mit einigen arabischen Einsprengseln ist, findet sich im Nordosten ein Gemisch aus Türken, Lasen und Kurden mit einigen wenigen Erinnerungen an die Armenier, die von hier während des Ersten Weltkrieges vertrieben wurden. Der Osten ist nicht nur arm, sondern bis heute auch die politische und gesellschaftliche Konfliktzone des Landes. Hier gibt es nicht nur die ethnische Auseinandersetzung zwischen Kurden und Türken, hier ist auch die Hochburg der Patriarchen. Es dominieren nach wie vor große Clans, die nicht nur aus deutscher Perspektive, sondern auch aus der Sicht der Westtürkei völlig archaisch vor sich hin leben. Patriarchalisches Denken und religiöser Fanatismus gehen gerade in dieser unterentwickelten Region oft eine unheilvolle Symbiose ein. Die extreme Unterdrückung der Frau bis hin zum Mord in der Familie, wenn ein weibliches Mitglied angeblich die Ehre des Hauses verletzt hat, ist ein Phänomen hauptsächlich dieser Region. Paradoxerweise hat der gewaltsame Kampf der kurdischen Arbeiterpartei PKK , die als ursprünglich linke Organisation nicht nur für ein unabhängiges Kurdistan kämpft, sondern auch die Befreiung der Frau auf ihre Fahnen geschrieben hatte, bis jetzt erheblich dazu beigetragen, dass die Unterentwicklung festgeschrieben wurde.
    20 Jahre Krieg und Ausnahmezustand in den kurdisch besiedelten Gebieten haben dazu geführt, dass ganze Landstriche entvölkert sind, die traditionelle Viehwirtschaft praktisch nicht mehr existiert und die Menschen stattdessen in den Slums der wenigen größeren Städte der Region leben, die meisten ohne Job und unter elenden Bedingungen. Staatliche Entwicklungsprojekte kamen unter den Bedingungen des Krieges nicht voran, und private Investoren machen bis heute einen großen Bogen um die Region. Auch wohlhabende Kurden legen ihr Geld fast nie in ihrer Heimatregion, sondern immer im Westen oder Süden des Landes an.
    Wenn man die gängigen Klischees über die Türkei auf ihren Wahrheitsgehalt abklopft, wird man deshalb in aller Regel feststellen, dass sie am ehesten für den unterentwickelten Osten des Landes zutreffen, über die moderne Türkei dagegen kaum eine Vorstellung existiert. Das wird dadurch verstärkt, dass die Einwanderer, die nach Deutschland und Westeuropa
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