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Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees

Titel: Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
Autoren: Juergen Gottschlich
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zweifellos wichtige Themen sind, die hoffentlich auch in der Türkei bald eine größere Rolle spielen werden.
    Der Alltag
    Doch Politik ist ja nicht alles im Leben. So spannungsgeladen die politischen Auseinandersetzungen sind, der normale Alltag ist für die meisten Menschen in der Türkei dennoch entspannter als in Deutschland. Das liegt hauptsächlich daran, dass man in der Regel unverkrampfter und zwangloser miteinander umgeht als in den stärker durchorganisierten Gesellschaften des Westens. Das Problem der Vereinzelung, die Einsamkeit, unter der viele Menschen in Deutschland leiden, ist in der Türkei viel seltener. Das ist nicht unbedingt eine Mentalitätsfrage, wie oft vor allem von Türken unterstellt wird. Die Deutschen, so wird immer behauptet, seien einfach kühler, egoistischer, mehr auf ihren ganz persönlichen Vorteil bedacht als Türken, während die Türken doch quasi von Natur aus warmherzig, offen und an ihren Mitmenschen interessiert seien. Sicher gibt es tatsächliche Mentalitätsunterschiede zwischen dem »normalen« Türken und dem »durchschnittlichen« Deutschen, die entscheidenden Gründe für die Unterschiede im Alltag sind aber andere. Die türkische Gesellschaft ist einfach anders organisiert. Obwohl mittlerweile gut 75 Millionen Menschen die Türkei bevölkern und nach den Berechnungen der Bevölkerungsstatistiker das Wachstum auch noch zehn Jahre anhalten wird, funktioniert das ganze Land doch immer noch ein wenig wie eine große Familie.
    Die sozialen Strukturen, in die die Menschen eingebunden sind, sind dichter als in Deutschland. Angefangen bei der Familie, über die Schule, Universität und den Arbeitsplatz bis hin zum Café an der Ecke, wo man den Lebensabend verbringt, ist der Türke praktisch immer von sozialen Netzen umgeben. Das hat Vor- und Nachteile. Man fühlt sich aufgehoben, wird aber gleichzeitig auch kontrolliert. Die Gesellschaft hat etwas Paternalistisches, nicht nur in der Familie im engeren Sinn, sondern auch, was das Leben im Wohnviertel und selbst das Verhältnis des Einzelnen zum großen Ganzen, wie den staatlichen Institutionen, angeht. Das macht sich noch bis ins Gefängnis bemerkbar. Jenseits der immer wieder zu Recht angeprangerten Vernehmungsmethoden, die aber vor allem auf den Polizeistationen und nicht im normalen Justizvollzug vorkommen, geht es in türkischen Haftanstalten relativ entspannt und weit weniger reglementiert als in deutschen Knästen zu. Bis vor wenigen Jahren gab es in türkischen Gefängnissen praktisch nur Gemeinschaftszellen, in denen bis zu 20 oder 30 Häftlinge zusammengelegt wurden, die dann ihren Tagesablauf weitgehend selbst organisieren durften.
    Dieses Familiäre in der türkischen Gesellschaft erzeugt einerseits einen angenehmen Wärmestrom, setzt aber auch voraus, dass die Hierarchien und Autoritäten anerkannt werden. Der gesamte Umgang der Türken mit ihrer Bürokratie basiert auf diesem Verhältnis. Jeder Beamte, ja jeder, der eine Uniform anhat oder einen Posten in der Bürokratie bekleidet, ist eine Respektsperson. Derjenige, dem so Respekt gezollt wird, muss im Gegenzug aber auch ein offenes Ohr für die Leute haben. Es gibt zumeist komplizierte bürokratische Regeln, aber im Zweifel gibt es dann auch immer eine typisch türkische Lösung, wie man das Problem dennoch zur Zufriedenheit aller lösen kann. Dazu kann das berühmte Bakschisch gehören, muss aber nicht. Man ist einfach etwas flexibel.
    Bestes Beispiel dafür ist der Hausbau in den türkischen Städten. Es gibt mittlerweile strenge Regeln, die den anarchischen Wildwuchs, der in den Großstädten von den 1950 er bis in die 1980 er Jahre dominierte, in geordnete Bahnen lenken soll. Dazu gibt es eine Stadtplanung nach westeuropäischem Vorbild, Bebauungspläne für einzelne Viertel und besondere Schutzzonen, die für den Erhalt der historischen Bausubstanz sorgen sollen. Doch die Praxis sieht ein wenig anders aus. Als wir vor einigen Jahren ein Häuschen, das just in einer solchen Schutzzone liegt, sanieren wollten, stellte sich als Erstes die Frage, welche Baugenehmigung man beantragt. Eigentlich ist vor einer Baugenehmigung ein Okay der Denkmalschutzbehörde notwendig, die dem Sanierungsplan zustimmen muss. »Wenn ihr das machen wollt, könnt ihr lange warten«, brachte uns ein befreundeter Architekt gleich zu Beginn die Grundregeln bei. »Der normale Dienstweg ist praktisch unbegehbar.« Die Denkmalschutzbehörde ist personell völlig überfordert und braucht
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