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Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees

Titel: Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
Autoren: Juergen Gottschlich
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an der Mittelmeerküste. Doch wenn man bei den All-inclusive-Feriendörfern mit Recht von einer künstlichen Welt reden kann, die mit der Wirklichkeit der Türkei ansonsten wenig zu tun hat, so trifft dies auf Istanbul keineswegs zu. Zwar hat die Stadt innerhalb der Türkei eine Ausnahmestellung ähnlich wie New York in den USA , doch gleichzeitig ist Istanbul auch ein verlässlicher Spiegel für das gesamte Land. Nicht nur, dass nach drei Jahrzehnten Binnenmigration in Istanbul praktisch alle Regionen und ethnischen Gruppen der Türkei präsent sind, die Stadt ist natürlich auch der Trendsetter für das gesamte Land. Das gilt nicht nur für Mode, Musik und Medien, sondern auch für den Umgang der ganz unterschiedlichen Gruppen der türkischen Gesellschaft miteinander. Denn Unterschiede, Diversity, ist das eigentliche Charakteristikum der türkischen Gesellschaft. Und wie mit dieser Unterschiedlichkeit umgegangen wird, ist der Schlüssel für die Zukunft des Landes.
    Alles das, was ein durchschnittlich interessierter Zeitungsleser in Deutschland über die Türken von nebenan und damit über die Türkei weiß, gibt es ja tatsächlich, aber es gibt eben doch viel mehr. Das Land ist das krasse Gegenteil einer formierten, übersichtlichen und durchstrukturierten Gesellschaft. Das beginnt bei dem, für jede Gesellschaft entscheidenden, Schlüssel der Verteilung von Einkommen und Vermögen. Wenn in Deutschland über die sich immer stärker öffnende Schere zwischen Besitzenden und Besitzlosen geklagt wird, ist das nichts im Vergleich zu der Türkei. Istanbul hat mehr Dollar-Milliardäre als München oder Hamburg und gleichzeitig mehrere Millionen Einwohner, die von Hartz-IV-Bezügen nur träumen können. In der Stadt gibt es moderne Viertel, die es von der wirtschaftlichen Dynamik und ihrem kulturellen Angebot her mit jeder deutschen Stadt aufnehmen können, und gleichzeitig große Bezirke, deren Ursprung als »Gecekondu«, den über Nacht erbauten Slums, noch deutlich erkennbar ist. Es gibt Zonen der Freizügigkeit und Viertel der religiösen Dominanz, zwischen denen Welten liegen und die dennoch nur wenige Kilometer voneinander entfernt sind.
    Diese Ungleichzeitigkeit der Entwicklung wird erst recht deutlich, wenn man die Türkei von West nach Ost durchquert. Eine Fahrt in einem der üblichen Überlandbusse von Istanbul nach Van, der letzten größeren Stadt vor der iranischen Grenze, dauert nicht nur gut 30 Stunden, sondern gleicht auch einer Zeitreise. Wenn man an der Ostgrenze ankommt, hat man das Gefühl, nicht ein, sondern drei Länder durchquert zu haben, so groß sind die Unterschiede. Der Westen bis Ankara, aber auch die gesamte Ägäisküste, rangieren in puncto Modernität und Wohlstand weit über dem Niveau des Balkans, aber auch vieler anderer Regionen Osteuropas. Deshalb versteht hier auch kein Mensch, wie Bulgarien und Rumänien EU -Mitglieder werden konnten und die Türkei angeblich noch mindestens 20 Jahre brauche, bis sie so weit sei. Wer einmal mit dem Auto auf dem Weg in die Türkei durch Rumänien und Teile von Bulgarien gefahren ist, hat geradezu das Gefühl, mit Erreichen der türkischen Grenze endlich wieder in der Zivilisation gelandet zu sein.
    Wenn man allerdings von Ankara aus weiter nach Osten fährt, dann ähnelt das Bild doch wieder eher Rumänien. Die moderne, von Istanbul kommende Autobahn endet hier. Ab jetzt gibt es zwar immer wieder Schnellstraßenversatzstücke, aber die Qualität der Infrastruktur nimmt doch schon kurz hinter Ankara deutlich ab. Das gilt auch für die industrielle Erschließung des Landes. Östlich der Hauptstadt kommt nicht mehr viel, abgesehen von den großen Städten an der Mittelmeerküste wie Adana, Mersin und Iskenderun. Ausnahmen sind Kayseri und Gaziantep, zwei Boomtowns der sogenannten islamischen Tiger, also Zentren einer neuen, islamisch geprägten Bourgeoisie, auf die der türkische Staat bei der weiteren ökonomischen Entwicklung des Landes große Hoffnungen setzt. In Kayseri, der Stadt der islamischen Calvinisten, wie sie seit dem Erscheinen einer aufsehenerregenden Studie vor einigen Jahren jetzt häufig genannt wird, sorgen große Textilfabriken für Wohlstand und Auskommen. Modernste Maschinen und eine geradezu unglaubliche Arbeitsmoral, so einer der Autoren der Studie, sind das Fundament des Aufschwungs in Kayseri. Gaziantep, nicht allzu weit von der syrischen Grenze entfernt, ist das Zentrum der verarbeitenden Agrarindustrie für eine große Region
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